Der Stuttgarter Jugendrat übt harsche Kritik: Seit die Zeit zum Abitur auf acht Jahre verkürzt wurde, fehlt vielen Schülern Zeit für Musik- und Sportvereine. Auch der Jugendrat selbst leidet unter dem Turbo-Abitur.

Stuttgart - Erst mal durchatmen. Die Osterferien passen Patricia Roth bestens in ihren Terminplan. Endlich hat die 16-jährige Schülerin ein paar Freiräume mehr als in einer normalen Schulwoche. Jetzt kann die Sprecherin des Stuttgarter Jugendrats ohne schlechtes Gewissen etwas mehr Zeit auf das verwenden, was sonst zu kurz kommt.

„In meiner Freizeit spiele ich Tennis. Am Wochenende kommen oft Termine für den Jugendrat dazu“, sagt Roth. Im nächsten Jahr steht für die Schülerin des evangelischen Mörike-Gymnasiums das Abitur an. „Früher habe ich oft viermal die Woche Tennis gespielt“, sagt sie. Das sei heute unmöglich. Der Grund: die hohe schulische Anforderung. Die Jugendrätin Roth sieht das achtjährige Gymnasium kritisch: „Man ist immer unter Druck und muss eigentlich immer lernen. Es kann doch nicht sein, dass fast jeder Schüler Nachhilfe nehmen muss, um den Stoff zu schaffen.“ Für Schüler, die sich neben der Schule ehrenamtlich engagierten, sei G 8 „sehr stressig“. Einige Schüler kämen, wenn sie beides unter einen Hut bekommen wollten, an ihre Grenzen.

Nur drei der 25 öffentlichen Schulen bieten G 9 an

Diese Ansicht hat Roth nicht alleine. Gemeinsam mit der Jugendrätin Anna Staroselski hat sich Roth des Themas angenommen. In verschiedenen Sitzungen des Jugendrats wurde die Bildungspolitik diskutiert. Im Stadtgebiet Stuttgart gibt es 25 öffentliche Gymnasien, nur drei davon bieten einen G-9-Zug an: das Zeppelin-Gymnasium in Stuttgart-Ost, das Leibniz-Gymnasium in Feuerbach und das Wilhelms-Gymnasium in Degerloch. Die Jugendräte fordern mehr solcher Schulen.

Die 18-jährige Staroselski, die ihr Abitur im vergangenen Jahr am Fanny-Leicht-Gymnasium in Stuttgart-Vaihingen gemacht hat, sieht dringenden Handlungsbedarf: „Wir müssen den Leistungsdruck für die Schüler aus dem System nehmen.“ In ihrer Schulklasse hatten einige Schüler mit dem achtjährigen Weg zum Abitur zu kämpfen. „Oft ist Angst im Spiel, manche Schüler haben sich krankschreiben lassen.“ In Fächern wie Mathematik hätten die Schüler viel zu wenig Zeit zum Lernen. „Es wird versucht, eine viel zu große Menge Stoff in kurzer Zeit einzuimpfen. Das funktioniert so einfach nicht.“

Jugendrat diskutiert mit Landtagsabgeordneten

Die Mediengruppe des Jugendrates entschied sich, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen und eine Videosendung zu produzieren. Eingeladen wurden Stefan Fulst-Blei, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, und Georg Wacker, das Pendant von der CDU. Wacker konnte den Aufzeichnungstermin zwar nicht wahrnehmen, wurde allerdings über eine Videoschaltung in das Gespräch eingebunden. Die Jugendrätinnen konfrontierten die Gäste mit der Situation.

Zunächst stellten beide Politiker klar, dass die komplette Abschaffung von G 8 der falsche Weg sei. „Durch den G-8-Zug sparen sich die Schüler ein Jahr und sind früher mit der Schule fertig. Warum denn nicht?“, spielte CDU-Politiker Georg Wacker den Ball zu den Jugendräten zurück.

Stefan Fulst-Blei dagegen möchte weitere G-9-Schulen einführen. Den Jugendräten sagte er: „Ich persönlich stehe für eine Ausweitung von G 9 ein. Wir haben uns jetzt auch innerhalb der SPD darauf geeinigt, dass wir erst schauen wollen, wie sich die bereits eingeführten G-9-Modellschulen entwickeln.“ Eine Ausweitung steht in der Regierung derzeit aber nicht zur Debatte. Auch Georg Wacker sieht das Problem, dass Schüler im G-8-System besser unterstützt werden müssten: „Wir nehmen wahr, dass es zu besonderen Belastungsfunktionen für Schüler kommt.“ Grundsätzlich sei das achtjährige Gymnasium aber der richtige und einzige Weg.

Kaum Schüler haben Zeit für Musik- und Sportvereine

Genau das missfällt den Jugendräten. „Das außerschulische Engagement der Schülerinnen und Schüler leidet unter G 8“, sagt Staroselski. Kaum einer habe noch Zeit für den Musik- oder Sportverein. Diesen Trend bestätigt Jörg Titze, Leiter Jugendpolitik bei der Evangelischen Jugend in Stuttgart. „Die Beteiligung der Jugendlichen in Jugendverbänden geht klar zurück“, sagt Titze. Auch die Form der Beteiligung verändere sich stark. „Die Art und Weise, wie sich Jugendliche engagieren, beschränkt sich auf immer kürzere Zeit“, sagt Titze. Die Schüler treten meistens in der Oberstufe kürzer, spätestens aber im Abitur-Jahr. Dann haben sie meist keine Zeit mehr für ehrenamtliches Engagement.

Auch der Stuttgarter Jugendrat selbst leidet unter dem Trend. Seit den Wahlen im Jahr 2010 gingen die Bewerberzahlen zurück. Hatten sich 2012 noch 421 junge Leute als Kandidaten aufstellen lassen, so reichten 2014 nur noch 301 Schüler ihre Bewerbung ein. Selbst wenn sie wollten – sie könnten sich gar nicht fürs Ehrenamt und für G 9 entscheiden. Im Interview fragt die Jugendrätin Anna Staroselksi daher: „Sind drei G-9-Schulen in Stuttgart nicht zu wenig?“ Stefan Fulst-Blei bestätigt die hohe Nachfrage danach in Stuttgart, verweist aber auf Alternativwege. „Es besteht auch die Möglichkeit, erst den Realschulabschluss zu machen und dann über ein berufliches Gymnasium das Abitur zu machen.“

Die Jugendräte wollen es dabei nicht belassen. Sie planen, das Thema im Hinblick auf die anstehende Landtagswahl 2016 genau zu beobachten.