Antonio Rüdiger (im Duell rechts/weißes Trikot) bestritt gegen Argentinien sein zweites A-Länderspiel für Deutschland Foto: Bongarts

Wie wird man eigentlich Nationalspieler? Klar, durch einen Anruf vom Bundestrainer. Damit hat man es aber noch lange nicht geschafft, wie das Beispiel Antonio Rüdiger zeigt.

Kamen - Antonio Rüdiger war einer der Ersten, der nach der 2:4-Niederlage gegen Argentinien die Düsseldorfer Arena verließ. Eigentlich hatte er nach seinem zweiten Länderspiel keine Lust zu reden, wollte nur schnell weg, doch da hatte er die Rechnung ohne die Journalisten gemacht. Nicht eine Handvoll, wie er es beim VfB Stuttgart gewohnt ist, warteten auf seine verbalen Ergüsse, sondern etwa zehnmal so viele. Rüdiger hatte keine Chance. Willkommen bei der Nationalmannschaft!

Der 21-Jährige wusste: Jetzt den Spielverderber zu geben, wäre ganz schlecht. Also erzählte er ein bisschen; über das Spiel, seine Leistung, dass er es als Ehre empfinde, im Kreise der Weltmeister aufzulaufen und so weiter. Es war kein Auftritt, der die neugierige Medienschar vom Hocker riss, aber Rüdiger hat zumindest nichts falsch gemacht – genauso wie in den 13 Minuten zuvor, die er auf dem Platz gestanden hatte. Und damit hat Rüdiger alles richtig gemacht.

Spieler, die gleich bei ihren ersten Auftritten im Kreise der Elite-Auswahl durch die Decke schießen und hinterher kesse Sprüche reißen, mögen sie nicht so sehr beim Deutschen Fußball Bund (DFB). Alles zu seiner Zeit, lautet die Devise. Für Neuankömmlinge wie das Abwehrtalent aus Stuttgart heißt s erst mal: Eifer bremsen, ehrerbietig sein, hinten anstellen. Und die Chance packen – wenn sie sich bietet.

Die Nationalmannschaft ist weit von einem Kasten-System entfernt. Die Zeit, in der die Neuen den Platzhirschen die Trainingstasche tragen mussten, sind lange vorbei. Aber Gruppen gibt es. Für den Moment hat sich der gebürtige Berliner von den Perspektivspielern in die Gruppe der Jungen hochgearbeitet. Dazu zählen neben ihm noch Julian Draxler, Erik Durm, Christoph Kramer, Shkodran Mustafi und Matthias Ginter. Spieler, die sich in ihren Clubs zu gestandenen Profis entwickelt haben und es zu Stammspielern in der Nationalelf schaffen können. Dass Rüdiger als Einziger vom VfB Stuttgart kommt, muss kein Nachteil sein – siehe Mustafi, der es von Sampdoria Genua direkt zur WM nach Brasilien geschafft hat.

Der DFB will mündige Spieler, aber keine Sprücheklopfer

Vor ihnen rangieren die Gestandenen wie Jérôme Boateng, Mesut Özil, Benedikt Höwedes, Mario Gomez, André Schürrle, Lukas Podolski, Toni Kroos, Marco Reus oder Mario Götze. Sie haben in der Bundesliga wie auch im Trikot mit dem Adler auf der Brust schon einiges erreicht, sind auch anerkannt, aber keine Führungsspieler. Das ist entweder Typsache (Toni Kroos, Mesut Özil) oder hat sportliche Gründe. Mario Gomez hat an Stellenwert eingebüßt, genauso wie Lukas Podolski. Die Spitze der Pyramide bilden Kapitän Bastian Schweinsteiger, Mats Hummels, Manuel Neuer, Sami Khedira und Thomas Müller. Also die überragenden Akteure der vergangenen Jahre. Sie haben sich nicht zuletzt durch den WM-Titel einen Status erarbeitet, an dem so schnell nicht zu rütteln sein wird. Nicht umsonst bilden sie auch den neuen Mannschaftsrat.

Ihr Wort hat Gewicht, auch bei Bundestrainer Joachim Löw. Er und – mehr noch – Teamchef Oliver Bierhoff schätzen mündige Spieler, und das sind Schweinsteiger und der Rest des Mannschaftsrats allemal. Sie scheuen nicht davor zurück, Probleme beim Trainerteam anzusprechen. Nach dem Abschied von Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ist die Situation für alle Beteiligten neu. Schweinsteiger wird zwar nach außen das Gesicht der DFB-Elf sein, doch intern wird die Führungsrolle auf mehrere Schultern verteilt, was wiederum mit den hohen Fehlzeiten des Bayern-Profis zusammenhängt.

Für Bundestrainer Joachim Löw ist der Umbruch vor dem Start in die EM-Qualifikation an diesem Sonntag in Dortmund gegen Schottland (20.45 Uhr/RTL) „eine große Chance“ für die Jungen wie Antonio Rüdiger, den er kürzlich als „kleinen Boateng“ bezeichnete. „Sie haben jetzt mehr Raum, um es auf die nächste große Stufe zu schaffen.“ In den ersten gemeinsamen Tagen nach Brasilien in der Sportschule Kaiserau hätten sie es auch prima gemacht – indem „sie sich gut ins Team eingefügt haben“, wie Torwarttrainer Andreas Köpke sagt. Man könnte auch sagen: hinten angesellt haben. Erst mal.