Cannstatter Kurve: Begeisterung pur statt Häppchen und Prosecco Foto: dpa

Der Fußball ist ein Geschäft. Und er ist ein wertvoller Teil deutscher Sportkultur. Weshalb kommerzielle Interessen immer mal wieder mit gewachsenen Werten kollidieren. Sind Business und Tradition zwangsläufig unvereinbar?

Stuttgart - Es liegt in der Natur des Menschen, dass er zu irgendetwas gehören will. Zu einer Familie, zu einer Kirche, einer Gewerkschaft, einer Partei oder zu einem Verein. Die Gemeinschaft ist soziale Heimat, sie stiftet Identität, sie vereint Ideale, Wertvorstellungen, Erlebnisse, Rituale und Gefühle. Weshalb im Fußball ein alter Streit immer dann neu entflammt, wenn jemand das Vertraute und Bewährte ändern will. Wie in den Tagen vor dem Start in die neue Bundesliga-Saison.

Aufgeschreckt vom neuen Fernsehvertrag der englischen Premier League, hirnen die Macher deutscher Fußball-Herrlichkeit über neue Dimensionen der Vermarktung. Den Bundesliga-Spieltag weiter aufsplitten? Die Clubs international offensiver vermarkten? Mehr Konkurrenz im Bezahlfernsehen schaffen? Die Eintrittspreise erhöhen? Noch mehr Sponsoren in die Stadien locken? Investoren als strategische Partner mit ins Boot holen?

Was den Aposteln der reinen Fußball-Lehre vorkommt wie das Folter-Arsenal der Schlipsträger aus den Profitcentern der Branche, erscheint den Club-Verantwortlichen von Hamburg bis Stuttgart als die pure Notwendigkeit. Wie sonst sollten sie den Abstand klein halten zur britischen Konkurrenz, an die das Bezahlfernsehen von 2016 an jährlich 3,2 Milliarden Euro ausschüttet? Die Bundesliga plant für die Spielzeit 2016/17 mit 835 Millionen Euro. Nur.

Und wie immer kommen aus München mahnende Worte. „Wir müssen aufpassen, dass uns die Engländer nicht leer kaufen“, warnte Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge und stellte fest, „dass die uns gerade links und rechts überholen.“ Zwar war in den Halbfinals der europäischen Cup-Wettbewerbe kein Verein von der Insel mehr vertreten, und die Nationalmannschaft ist seit Jahren ein ziemlich erfolgloser Haufen, aber es stimmt schon: Die Einkäufer aus der Premier League zahlen bisweilen überdurchschnittlich viel für durchschnittliche Spieler: Shinji Okazaki, ehemals VfB Stuttgart, wechselte für elf Millionen Euro Ablöse von Mainz 05 zu Leicester City. Der Japaner ist bald 30 Jahre alt, sein Vertrag bei den Rheinhessen lief nur noch ein Jahr. „England ist unsere neue Konkurrenz“, schätzt 05-Manager Christian Heidel und schlägt als Taktik vor: „Wir holen uns das Geld von dort und machen bei uns das Beste draus.“

Die Zukunft verschlafen?

Hat der deutsche Fußball womöglich die Zukunft verschlafen? Ein bisschen vielleicht schon, sagen die Experten. Zumindest auf internationalem Terrain. Christian Seifert, Boss der Deutschen Fußball-Liga (DFL), „hätte es sehr begrüßt, wenn wir in diesem Sommer ein paar mehr Clubs in Asien oder den USA gesehen hätten als Bayern und Dortmund.“ Immerhin kündigte der Liga-Chefvermarkter dieser Tage an, mit der Neuverhandlung der Fernsehverträge ab der Saison 2017/2018 die Milliarden-Schallmauer durchbrechen zu wollen.

Dagegen sei im Grunde wenig zu sagen, meint Joachim Schmid, Vorsitzender des größten Fanclubs beim VfB Stuttgart. „Man darf die Schraube halt nicht überdrehen.“ Wie schnell das passieren kann, ist nach Meinung von Kai Uwe Völschow just in England zu besichtigen, wo die Stimmung in einigen Stadien der „in einer Aussegnungshalle“ gleicht. „Keine Stehplätze, sündhaft teure Tickets“, klagt das Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft für Fans und Fan-Belange beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). Beim FC Chelsea etwa sollte man schon mal mindestens 100 Euro investieren, um überhaupt ins Stadion an der Stamford Bridge zu gelangen. „Das Stadion ist ein anderes“, schätzt VfB-Präsident Bernd Wahler, „wenn sich nur noch die Reichen den Fußball leisten können“, und prophezeit: „Ich sehe die Gefahr der Entfremdung. In England wird ein Umdenken stattfinden.“

Mancherorts ist das schon geschehen. Kai Uwe Völschow, den Stuttgarter Kickers eng verbunden, weiß von gelegentlichen Flugreisen englischer Fans zu Heimspielen des FC St. Pauli. „Die sagen: So war es bei uns in den 80er Jahren.“ Seit den neunziger Jahren rufen die Fußball-Puristen auf der Insel nicht ohne Grund: „Reclaim the game.“ Holt euch das Spiel zurück. Ohne Erfolg.

Ohne Kurve keine Loge

So weit soll es in der Bundesliga nicht kommen. Bei allen Überlegungen, dem Verein die eine oder andere finanzielle Infusion durch Investoren zu verpassen, legt VfB-Chef Bernd Wahler gesteigerten Wert auf eine Konstellation, die an den kulturellen Fundamenten des Fußballs nicht rührt. „Er muss ein Erlebnis bleiben, bei dem alle Menschen zusammenkommen können.“ Wahler attestiert dem Publikum in der Mercedes-Benz-Arena zwar eine gewisse Heterogenität, aber auch die gegenseitige Wertschätzung. Was Marketingchef Jochen Röttgermann so ausdrückt: „Unsere Businesskunden schätzen die Stimmung im Stadion extrem. Wir brauchen die Cannstatter Kurve auch, um unsere Logen zu verkaufen.“ Aber auch umgekehrt wird irgendwie ein Schuh draus: Ohne die Einnahmen der Event-Society, die über den Bonzensteg vom Parkhaus zum Stößchen mit Prosecco ins Business-Center wackelt, wären die moderaten Ticketpreise auf den Stehplätzen (ca. 20 Euro) kaum zu halten.

Bisher, urteilt Fan-Experte Joachim Schmid, sei der Spagat zwischen Tradition und Kommerz beim VfB noch auszuhalten. Beim Vermarktungs-Flaggschiff FC Bayern dagegen gähnten nach der Pause schon derart große Lücken auf der Haupttribüne, dass aufgebrachte Fans vor Jahren skandierten: „Ihr seid nur zum Fressen da.“

Es spitzt sich zu auf die uralte Frage: Wem gehört der Fußball? Und: Was ist eigentlich Tradition? Und ist der Umstand, dass Fußball auch Geschäft ist, nicht seit jeher der Motor seiner Entwicklung? Jochen Röttgermann zückt seinen Diplomatenpass und versichert: „Wir wollen jedenfalls ein Premium- und kein Kunstprodukt.“ Was bedeutet: Beide Welten des Spiels haben ihre Existenzberechtigung. Und sie schließen sich nicht gegenseitig aus, solange das Pendel zwischen Tradition und Kommerz nicht zu sehr in die eine oder andere Richtung ausschlägt. Das weiß auch Bernd Wahler. Unabhängig von einer möglichen Ausgliederung der Profiabteilung in eine Aktiengesellschaft will er die VfB-Mitglieder in den kommenden Jahren mit auf eine anstrengende Reise nehmen: „Wir müssen aus unseren Möglichkeiten einfach mehr rausholen als andere.“ Eine auf schlechten Erfahrungen beruhende Erkenntnis, die beim VfB durchaus Tradition hat.