Vermutlich ein Glücksfall für das Literaturarchiv: die neue Chefin Sandra Richter Foto: dpa

Eine der wichtigsten Literaturinstitutionen des Landes bekommt erstmals eine Chefin: Die 43-jährige Sandra Richter wird künftig das Deutsche Literaturarchiv in Marbach leiten.

Stuttgart - Am Mittwoch auf der Buchmesse: Die Stuttgarter Germanistik-Professorin Sandra Richter stellt ihr eben erschienenes Buch „Eine Weltgeschichte der deutschen Literatur“ vor. Sie plaudert über die Wege, die Bücher zurücklegen, dass sich Nationalliteraturen eigentlich nur durch den Blick über die Grenzen verstehen lassen, sie erzählt warum sich die Chinesen in Kafka wiedererkennen und die Türken Goethe auf Französisch lesen.

Plötzlich wird sie gefragt, welchen Einfluss denn das Deutsche Literaturarchiv in Marbach auf ihre Arbeit gehabt habe. Eine ziemlich scheinheilige Frage, denn seit einigen Wochen ist es ein offenes Geheimnis, dass sie als Wunschkandidatin für die im nächsten Jahr vakant werdende Leitung dieses nicht nur wegen der Lage auf der Schillerhöhe vielleicht erhabensten Literaturinstituts im Landgehandelt wird. Spannend war eigentlich nur noch, ob die möglicherweise in strategischer Absicht lancierte Indiskretion ihre Berufung noch verhindern könnte. Glücklicherweise war dies nicht der Fall. Seit Donnerstag steht fest: Die einst jüngste deutsche Lehrstuhlinhaberin tritt die Nachfolge des sich Ende 2018 in den Ruhestand verabschiedenden Direktors Ulrich Raulff an und stellt abermals einen Jugendrekord ein. Denn mit Sicherheit wird sie wieder die jüngste Frau auf einem Posten sein, ganz einfach, weil Marbach noch nie eine weibliche Spitze hatte.

Weißer Rauch über Marbach

Der vorauseilenden Botschaft folgt nun mit einiger Verzögerung endlich der weiße Rauch des entscheidenden Kuratoriums der Deutschen Schillergesellschaft, begleitet von einem Terzett rühmender Stimmen: Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters schwärmt von der „bestens vernetzten Geisteswissenschaftlerin“, die das Literaturarchiv erfolgreich in das digitale Zeitalter führen und seine Internationalität weiter ausbauen werde; die erstaunlich umfangreiche berufliche Vita und die starke Persönlichkeit hebt die baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Theresia Bauer hervor, während Peter-André Alt, Präsident der Deutschen Schillergesellschaft, höflich seine Kollegin als ideale Nachfolgerin für den scheidenden Ulrich Raulff lobt.

In der Tat hat die in Frankfurt lebende Wissenschaftlerin bereits viele akademische Schlachten geschlagen in London und Paris, sie hat eine mindestens so beeindruckende Liste an Ehrungen, Auszeichnungen und Mitgliedschaften vorzuweisen, wie ein Vier-Sterne-General. Doch Marbach ist kein Flaggschiff, sondern ein Leuchtturm – und Sandra Richter ist die diesem Ort gebührende Lichtgestalt. Auch deshalb, weil ihr aktuelles Buch damit beginnt, dass Frankensteins Monster Goethes Werther liest. Ähnlich wie Raulff, aber doch ganz eigen, verbindet die 43-Jährige profunde Wissenschaftlichkeit mit einer Anschaulichkeit, die ihre Arbeit leicht über alle spröden Fachgrenzen hinweghebt. Die passionierte Saxofonspielerin beherrscht auch die leichteren Töne. Ihre Bücher über den Optimismus oder eben jetzt die Internationalität der Deutschen Literatur sind zugänglich ohne die Standards ihrer Disziplin zu verletzen – Eigenschaften, wie man sie eher an angelsächsischem Schrifttum bewundert.

In Frankfurt jedenfalls hätte man ihr gerne noch länger zugehört. Die Antwort auf die Frage, wie sie es mit dem Deutschen Literaturarchiv halte, wird die Praxis geben. Die Chancen, dass sich der auf der Schillerhöhe von ihrem Vorgänger aufgewirbelte Staub sobald nicht legen wird, stehen gut.