Wer isst, lebt, wer nicht isst, stirbt. Das ist eine Weisheit aus dem Hospizalltag. Weitere Endrücke gibt es in unserer Bildergalerie. Foto: Sägesser

Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 8 bis 9 Uhr begrüßen wir den Tag im Hospiz Degerloch, wo frühstücken von besonderer Bedeutung ist, wie auch unser Audio-Beitrag verrät.

Degerloch - Es muss schon jemand da gewesen sein; das verrät der angebrochene Kirschjoghurt. Doch auf Kaffee hat derjenige verzichtet; die orangefarbenen Kaffeebecher stehen alle noch verkehrt herum auf den Tellerchen. Es ist still, oder: fast still. Auf dem Plastikboden quietschen die Schuhsohlen der Putzfrau, und draußen vor dem Fenster rauscht der Berufsverkehr; die Leute sind auf dem Weg zur Arbeit oder sonst wohin. Doch hinter den gekippten Glasscheiben im Hospiz Sankt Martin in Degerloch ticken die Uhren anders. Während der Tag erwacht, verbringen hier Menschen ihren Lebensabend. Auch für sie beginnt gerade ein neuer Morgen. Vielleicht der letzte.

Demütige Wünsche

Ulrike Geiger, die Leiterin des Pflegediensts, steht in der schmalen Küche und holt den Aufschnitt aus dem Kühlschrank. Sie verziert Käse- und Wurstteller mit ein wenig Kräutern und Radieschen. Das Auge isst mit. Eigentlich überall, aber im Hospiz ganz besonders. „Die Leute essen alles, was lecker ist und ungesund“, sagt Ulrike Geiger. Sie und ihr Team stillen fast alle Gelüste. „Das sind oft ganz demütige Wünsche“, sagt sie. Zum Beispiel ein Löffel Eis.

Als Ulrike Geiger die Frühstücksbrötchen aus der Bäckertüte in einen Korb purzeln lässt, sagt sie: „Wer isst, lebt, und wer nicht isst, stirbt.“ So einfach ist es, und gleichzeitig so traurig. Das ist die eine Seite. Die andere geht so: „Hospizarbeit ist mit viel Humor verbunden“, sagt Ulrike Geiger etwas später, nachdem sie die Frühstückszutaten auf dem Tablettwagen von der Küche in den Aufenthaltsraum geschoben hat und den Esstisch fertig deckt. Die Gäste – so heißen die Menschen, die hier auf den Tod warten – lieben zum Beispiel die beiden Aufziehmännchen, die schnurrend über den Tisch hoppeln, wenn einer an ihrem Rädchen gedreht hat. Gäbe es nichts zum Lachen, „würden wir das Ganze ja irgendwann auch nicht mehr aushalten“, sagt Ulrike Geiger.

An diesem Morgen fehlt kein Gedeck auf dem Frühstückstisch, die Kerze draußen im Flur ist aus. Sie brennt immer dann, wenn ein Gast gestorben ist. Wäre ein solcher Morgen, hätte wahrscheinlich keiner Spaß am hoppelnden Männchen. Dann würden die, die überhaupt Lust auf Frühstück haben, eher miteinander weinen – oder einfach schweigen. Schwester Gertrud erzählt von jungen Mädchen, die sich hier neulich von ihrer Oma verabschieden mussten. Die Schwester, im ersten Eindruck von burschikoser Natur, hat ihnen Stofftaschentücher geschenkt, sie habe gesagt: „Damit ihr weinen könnt.“ Wie ergriffen die Mädchen darauf reagierten, habe ihr schier das Herz zerrissen.

Auch wenn in der Nacht niemand verstorben ist, bleiben an diesem Morgen ein paar Plätze am Tisch frei. Nicht allen ist nach Laugenweckle mit Marmelade. Die meisten Zimmertüren sind einen Spalt geöffnet; manche Gäste bleiben zwar lieber für sich am Morgen, brauchen Zeit, um in die Gänge zu kommen, doch sie hören gern das Gemurmel und Geschirrklappern der anderen. Die Gäste, die frühstücken, kauen ihr Brot, lassen sich Stückchen für Stückchen in den Mund schieben oder greifen, wenn sie es können, selbst zu. Ein noch recht junger Mann trinkt seinen Kaffee aus, steht auf und schlurft in seinen Schlappen zum Raucherraum. So bedrückend der Grund sein mag, weshalb sie hier beieinander sitzen und den neuen Lebenstag einklingen lassen – an diesem Morgen regiert der Gemein- und nicht der Trübsinn. „Wir haben Sie geschlafen?“, fragt einer. „Kann man gerade noch so lassen, und Sie?“, antwortet der andere. „Gut, gut“, sagt der eine.

Es war das letzte Geburtstagsfest

Ingrid und Johannes Hallmayer sind Anfang März im Hospiz eingezogen, am Tisch haben sie ihre Stammsitzplätze, der Rollator im Eck seinen Stammparkplatz. Johannes Hallmayer ist sterbenskrank, und seine Frau will bei ihm sein, das Haus in der Hechinger Gegend ist verwaist. „Mein Mann würde nie allein hier wohnen“, sagt die 74-Jährige. Er sitzt an jenem Morgen neben ihr, sagt nichts, ein Handtuch auf den Knien. Er ist ein Jahr älter als sie, hat seinen 75. Geburtstag im Hospiz gefeiert. Das war ein tolles Fest. Was ihm damals klar war: Es würde sein letztes Geburtstagsfest sein. Seiner Frau sind die vergangenen Monate ins Gesicht gezeichnet. „Es ist ja nur vorübergehend“, sagt sie. Sie hatte recht. Einige Tage nach diesem Frühstück ist ihr Mann verstorben.

Es gibt mehr Menschen, die in Begleitung sterben möchten, als im Hospiz Betten stehen. Deshalb sind die acht Zimmer an der Jahnstraße fast immer belegt. Ulrike Geiger findet die überschaubare Größe gut, weil sie so Ruhe haben für die Gäste. Und damit auch Muße, sich an den Frühstückstisch zu setzen und selbst eine Tasse Kaffee zu trinken. Ulrike Geiger und ihre Kollegen schenken den Menschen hier vor allem Zeit. Zeit, die haben sie hier alle zur Genüge, und trotzdem läuft sie ihnen davon.

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