Das Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg bei Ludwigsburg - hier war Hans Lipschis seit Mai untergebracht. Foto: dpa

Seit Mai lag Hans Lipschis im Gefängniskrankenhaus Hohenasperg. Er sollte sich wegen Beihilfe zum hundertfachen Mord vor Gericht verantworten. Jetzt wird der frühere Wachmann im KZ Auschwitz freigelassen - der 94-Jährige ist verhandlungsunfähig.

Seit Mai lag Hans Lipschis im Gefängniskrankenhaus Hohenasperg. Er sollte sich wegen Beihilfe zum hundertfachen Mord vor Gericht verantworten. Jetzt wird der frühere Wachmann im KZ Auschwitz freigelassen - der 94-Jährige ist verhandlungsunfähig.

Ellwangen - Der angeklagte, frühere SS-Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz, Hans Lipschis, ist auf freiem Fuß. Es bestünden wegen einer beginnenden Demenz erhebliche Zweifel daran, dass der 94-Jährige verhandlungsfähig sei, teilte das Landgericht Ellwangen am Freitag mit. Der Haftbefehl gegen Lipschis wurde mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Ob es noch zu einem Prozess gegen den gebürtigen Litauer kommt, muss das Gericht noch entscheiden. Wenn keine Besserung von Lipschis Gesundheitszustand eintritt, ist eine Verhandlung aber sehr unwahrscheinlich.

Mit dieser Entscheidung schwinden die Chancen, fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg NS-Schergen vor Gericht zu stellen. Die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg hatte erst vergangene Woche 30 ähnliche Verfahren an Staatsanwaltschaften in elf Bundesländern abgegeben.

Lipschis war seit dem 6. Mai in Untersuchungshaft im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg bei Stuttgart. Nach Bekanntwerden der Entscheidung sei Lipschis sofort freigekommen, hieß es dort. Das Landgericht Ellwangen stützte sich bei seiner Entscheidung auf einen persönlichen Eindruck sowie auf die Einschätzung eines Psychiaters. Dieser diagnostizierte bei Lipschis eine beginnende Demenz. Die Konzentrationsfähigkeit und das Kurzzeitgedächtnis des Angeschuldigten seien deutlich beeinträchtigt.

Lipschis „Tagesform“ unterliege erheblichen Schwankungen. Unter Belastung könne dies bis zur Desorientiertheit führen. Angesichts dessen sei es sehr wahrscheinlich, dass der frühere SS-Wachmann einem Strafprozess von dieser Größenordnung, Komplexität und Dauer nicht mehr ausreichend folgen und sich deshalb nicht mehr angemessen verteidigen kann, meinte die Schwurgerichtskammer.

Lipschis wanderte 1956 in die USA aus

Laut Anklage hatte Lipschis zwischen 1941 und 1943 Wachbereitschaft im KZ Auschwitz. Durch seine Tätigkeit habe er den Lagerbetrieb und damit die Vernichtungsaktionen unterstützt. Während seiner Wachzeit seien in Auschwitz zwölf Transporte mit tausenden Gefangenen eingegangen. In vielen Fällen seien nicht arbeitsfähige Menschen sofort aussortiert und in den Gaskammern getötet worden.

Laut Staatsanwaltschaft lebte Lipschis nach Kriegsende zunächst in Norddeutschland, wanderte 1956 aber nach Chicago (USA) aus. Nachdem dort Anfang der 80er Jahre bekanntgeworden war, dass der Angeschuldigte entgegen seinen Angaben im Einbürgerungsverfahren als SS-Mitglied zur Lagermannschaft von Auschwitz gehörte, wurde ihm in einem Ausbürgerungsverfahren die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt. Ende 1982 wurde er aus den USA ausgewiesen, lebte seither im Ostalbkreis.

Bisher blieben viele mutmaßliche NS-Täter straffrei, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden musste. Dies war vielfach nicht möglich. In den Vorermittlungen für den Prozess gegen John Demjanjuk, Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, hat die NS-Stelle in Ludwigsburg die Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz aber neu definiert. Demnach ist jeder zu belangen, der in einem KZ dazu beigetragen hat, dass die NS-Tötungsmaschinerie funktionierte - egal ob an den Gaskammern oder als Koch wie Lipschis.