Am 29. Juni 2015 feiert Fritz Kuhn seinen 60. Geburtstag. Der Oberbürgermeister von Stuttgart kann auf eine mehr als 40-jährige politische Karriere zurückblicken. Geboren wurde Kuhn in Bad Mergentheim als Sohn eines Bundeswehr-Beamten. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Memmingen. Foto: dpa

Zuletzt platze ihm der Kragen. OB Fritz Kuhn kämpfte um Stuttgarts Ruf, den er durch einen Fernsehkrimi gefährdet sah. Eine Überreaktion, meinen manche. Nicht nur sie weckt Zweifel, ob der Grüne, der nun 60 wird, stets das richtige Fingerspitzengefühl hat.

Stuttgart - Es gibt Schüsse, die gehen nach hinten los und treffen den Schützen. Fritz Kuhn, Stuttgarts Oberbürgermeister mit Grünen-Parteibuch, hat das gerade vorgemacht.

Nach der Ausstrahlung des „Tatort“-Krimis „Der Inder“ beanstandete er am Montag den Beitrag des Südwestrundfunks (SWR). Weil seine Stadt als „Drecksloch“ mit mordsmäßig viel Feinstaub in Szene gesetzt worden war. Und obendrein als Spielwiese von spekulationswütigen Investoren. Das sei Fiktion, nicht Realität, rief er der Bevölkerung humorlos in Erinnerung. Das Echo folgte prompt. Bei einer Veranstaltung veräppelte SWR-Moderator Michael Antwerpes den OB. „Fritz Kuhn lässt sich entschuldigen – er schreibt an einem Drehbuch für einen Rehabilitations-‚Tatort‘.“

Ein OB steht im Schussfeld

Klar, ein OB steht im Schussfeld. Er wird gelobt und gescholten. Er kann es nicht allen recht machen. Und doch muss er stets mit der Frage umgehen, ob er’s richtig macht. Kuhn sowieso. Am 29. Juni wird er 60. Das ermuntert sein Umfeld und zwingt ihn selbst zur Standortbestimmung.

907 Tage im OB-Amt wird er an seinem Geburtstag hinter sich haben, noch 2012 Tage vor sich, ehe seine Amtsperiode 2020 endet. Es wird zwingend die einzige bleiben, wenn der Landtag die Altersregelung nicht ändert. Immer zahlreicher und drängender sind daher in der Stadt die Fragen, was er bisher außer Ankündigungen vorgelegt hat; was sein Thema ist, was sein Profil.

Schwer zu sagen. Kuhn, der aus der Landes- und Bundespolitik kommt, wird bisweilen eine parteipolitisch geprägte Denkweise nachgesagt. Aber wie viele Deutsche wissen wohl noch, dass Stuttgart Ende 2012 als erste Landeshauptstadt einen grünen OB gewählt hat? Denn Kuhn fällt bisher nicht unbedingt durch mächtigen politischen Gestaltungswillen und große Gestaltungskraft auf. Dabei hatte man annehmen dürfen, dass sich ein kluger Politikprofi wie er zügig auf die kommunalen Verhältnisse umstellen und zügig durchstarten würde.

Kuhn versteht sich auf Taktik und Strategie

Kuhn versteht sich zwar auf Taktik und Strategie, hat aber seine Spielräume nicht genutzt, um den Verwaltungsapparat und seine Arbeitsweise anzupassen. Ein bisschen mehr Umbau, als er wagen wollte, hätte ihm wohl niemand verwehrt. Er aber richtete nur eine neue Stelle ein und besetzte sie sowie zwei andere Stellen mit Vertrauten. Die Juristin Andrea Klett-Eininger durfte wie unter dem CDU-OB Wolfgang Schuster Büroleiterin bleiben. Die Verwaltungsarbeit sollte weiterlaufen. Dennoch hapert es bei der Verbindung zwischen OB-Ebene und dem übrigen Apparat. Es holpert auch bei der Umsetzung seiner Vorgaben und bei seiner Belieferung mit Informationen und Konzepten aus den Referaten und Ämtern. Die werden von Bürgermeistern geführt, die eine starke Stellung haben.

Kuhn baute auf ihre Loyalität und ihre aktive Mitarbeit. Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) ließ er bewusst den Aufsichtsratsvorsitz bei der Wohnungsbautochter SWSG, die den Sozialwohnungsbau ankurbeln muss. Er wollte Föll nicht verprellen. Nach außen wirkt ihre Zusammenarbeit denn auch äußerst harmonisch. Im Verwaltungsalltag, heißt es, sei der Mann am Geldhahn jedoch „stärker als je zuvor“.

Kuhns Hoffnungen, dass seine Vorhaben besser vorangebracht werden, stützen sich jetzt auf seinen Parteifreund Peter Pätzold. Der soeben gewählte Nachfolger von Matthias Hahn (SPD) hat als Beigeordneter für Städtebau und Umwelt identische Hauptthemen: die Reduzierung der Luftschadstoffe auf Grenzwertniveau, die Energiewende, eine mehr bürger- statt investorennahe Stadtplanung.

Den „Primat der Politik“ zurückzuerobern, also Investorenwünsche dem Gemeinderatswillen unterzuordnen, ist ein Ziel, das Kuhn oft nennt. Darum dürfte er wohl auch so giftig auf die „Tatort“-Story reagiert haben. Und weil er dafür gesorgt hat, dass Grundstücke nicht mehr zum Höchstpreis vergeben werden müssen.

Manchmal fehlt die Gelassenheit

Eigentlich will Kuhn gelassen bleiben. Eigentlich hat er den Hang, die Verhältnisse kühl zu sichten und Fakten aufzuarbeiten. Dabei schärft er durchaus das Problembewusstsein der Öffentlichkeit, etwa für die Notwendigkeit, die Luftschadstoffe zu verringern. Nicht selten ist da aber mehr Verpackungskunst im Spiel als spektakulärer Inhalt. Die Maxime, der Autoverkehr im Talkessel müsse um 20 Prozent verringert werden, hört sich kraftmeierisch an. Tatsächlich aber meinen Experten schon seit langem, das Verkehrsaufkommen müsste eigentlich halbiert werden. Das Parkraummanagement, also die Abschreckung von Pendlern durch hohe Parkgebühren, vertritt er beredt. Aber auch das war schon vor seinem Amtsantritt angelegt.

Ein anderes Beispiel: der Bau von bezahlbaren Mietwohnungen. Unter Wolfgang Schuster war dieses alte Ziel schlichtweg vergessen worden. Kuhn setzte es, zusammen mit der SPD, im OB-Wahlkampf wieder auf die Agenda und gab später anspruchsvolle Margen vor: 600 neue geförderte Wohnungen pro Jahr, davon 300 Sozialwohnungen. Das Ergebnis: Weit gekommen sei er nicht, heißt es in der Wirtschaft, beim Mieterverein und bei der SPD. Auch sonst warten manche Akteure und Beobachter, sogar bei den Grünen, auf mehr Erfolge.

Kuhn will nicht anecken

Kuhn verweist oft darauf, dass er eine Stadt mit Investitionsstau übernahm. Dass er mit Stuttgart eine Automobilstadt auf Nachhaltigkeit trimmen muss. Aber was ihn und die Grünen wählbar machte – die bürgerliche, abwägende und unideologische Herangehensweise – ist jetzt ein Stück weit auch eine Bürde. Anecken will der OB möglichst nicht. Sein Respekt vor dem Amt und den Zwängen ist groß. Vielleicht zu groß.

Dass bei der Luftreinhaltung mehr passieren muss, ist klar. Die Einführung des Jobtickets für städtische Mitarbeiter, ein Erfolg Kuhns, wird nicht reichen. Wirksame Mittel gegen die Autolawine und die Schadstoffwolken haben spürbare Nebenwirkungen. Sie würden Proteste auslösen und wären ungerecht für all jene, die weniger Geld für Maut oder umweltfreundlichere Autos haben. Die Citymaut mag Kuhn nicht fordern. Er und der grüne Landesverkehrsminister Winfried Hermann setzen mehr auf eine informelle, also unverbindliche Bürgerbeteiligung. Das riecht nach einem Mangel an Mut und Führungswillen.

Dazu kommt, dass Kuhn keine Leuchttürme bauen will, die nachher Bauruinen sind. Dass er keine Feuerwerke zünden und andere die abgebrannten Raketen wegräumen lassen will. Dass er sich als Reparateur der städtischen Infrastruktur versteht. Wobei er vermutlich unterschätzt, dass viele Menschen an einem erfolgreichen, im Wettbewerb gestählten Wirtschaftsstandort wie der Landeshauptstadt von ihrem OB ganz besonders große „Dynamik“ verlangen. Der Vorgänger wirkte manchmal wie ein nervöser Rennfahrer. Kuhn wirkt eher wie ein ruhiger Busfahrer mit angezogener Handbremse. Immerhin trat der Grüne, der penibel seine Darstellung in den Medien beobachten lässt und Fehler unbedingt vermeiden will, dafür auch nicht oft ins Fettnäpfchen. Bis er aus Brandschutzgründen den Fernsehturm sperren ließ. Das sei seine „schwerste Entscheidung“, sagt er. Viele schüttelten damals den Kopf. Um Weihnachten 2015 herum soll der Turm wieder öffnen. Dann schließt sich die Wunde.

Stadtgesellschaft versöhnen

Nein, ein kommunalpolitischer Sprinter ist Kuhn nicht. Sein Arbeitsstil trägt erst spät Früchte. Wenn überhaupt. Man bescheinigt ihm aber, dass er vor Entscheidungen das Gespräch suche. Dass er lösungsorientiert sei. Zudem hat er – Stichwort Stuttgart 21 – die Versöhnung der gespaltenen Bevölkerung begünstigt. Als guter Redner und unterhaltsamer Sitzungsleiter im Gemeinderat gilt er auch.

Alles zusammen zu wenig? Nicht so eilig. Denn auch konservative Kritiker, die sehr präsent sind, sollten sich fragen, was die Alternative gewesen wäre. Wo stünde die Stadt heute wohl mit einem Kandidaten wie Sebastian Turner, zu dessen größten politischen Erfahrungen es gehörte, als Kind auf dem Schoß des heutigen Ministerpräsidenten gesessen zu haben?

Außerdem: Man kann Kuhns vermeintliche Fehler auch als Vorzüge betrachten. Die Art, wie er sich gegen den nestbeschmutzenden „Tatort“ wehrt, sei ihm „hoch anzurechnen“, meint Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer. Die ist Kuhn recht gut gesonnen. Was vielleicht am meisten aussagt über das grüne Geburtstagskind auf dem OB-Sessel.