Kein Aufreger, sondern sachlicher Problemlöser: OB Fritz Kuhn beim Redaktionsbesuch bei den Stuttgarter Nachrichten. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Vor knapp zwei Jahren horchte Deutschland auf. Mit Fritz Kuhn übernahm erstmals ein Grüner in einer Landeshauptstadt den OB-Sessel. Heute produziert er deutschlandweit nur wenig Schlagzeilen. Stuttgarts OB ficht das nicht an. Für ihn rangiert die Lösung von Problemen vor der „Propaganda“.

Stuttgart - Fritz Kuhn ist nicht Boris Palmer. Dem Stuttgarter OB würde nie passieren, was dem Tübinger Kollegen und Parteifreund unterläuft: dass er beispielsweise beim Ausflug auf die Alb einen vergraulten Wirt hinterlässt, weil er impulsiv reagiert, wenn man ihm ein Apfelschorle im Freien verweigert. Kuhn polarisiert nicht so. Das heißt aber auch, dass er – anders als die Reizfiguren – nicht von vornherein Profil zeigt.

Beim Besuch in der Redaktion der Stuttgarter Nachrichten präsentiert er sich als ruhiger, besonnener Sachwalter der Stadt, als Anwalt der Bürger und Realist nicht ohne Sinn für die großen Themen. Aber nicht als Aufreger oder schillernde Politikerpersönlichkeit.

Kuhn weiß: Wer wie er weniger Autoverkehr im Stuttgarter Kessel will, muss die S-Bahn ausbauen

Bei einem Thema pfeift Kuhn zurzeit ganz besonders auf Öffentlichkeit: bei der Bemühung, die Bahnpläne auf den Fildern doch noch so zu trimmen, dass die entstehende Stuttgart-21-Infrastruktur dort Verkehrszuwächse in der Zukunft zulässt. Besonders für die S-Bahn, das Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs im Ballungsraum. Denn Kuhn weiß: Wer wie er weniger Autoverkehr im Stuttgarter Kessel will, muss die S-Bahn ausbauen. Daher ist der OB zurzeit hinter den Kulissen mächtig aktiv. Daher spricht er mit den Grünen im Land und den Bahnchefs in Berlin, mit den Stadt- und den Regionalräten. Er will „ein Paket schnüren“. Vor allem mit Thomas Bopp (CDU), dem Vorsitzenden des Verbandes Region Stuttgart, ziehe der stellvertretende Regionalpräsident Kuhn zurzeit die Strippen dafür, pfeifen die Spatzen von den Dächern.

Er sei sehr intensiv unterwegs, um zu prüfen, ob doch noch bessere Lösungen als die Antragstrasse der Bahn am Flughafen und in der dortigen S-Bahn-Station möglich wären, sagt Kuhn selbst. Und: „Es ist an der Zeit, dass die Bahn sagt, ob sie mehr Geld zu zahlen bereit ist als bisher.“

Bisher sage die Bahn immer nur, dass sie das beantragte Gleis vom Eisenbahn-Bundesamt schon genehmigt bekommen werde. Wenngleich viele daran zweifeln und die Bahn noch mit den Gutachtern der von Leinfelden-Echterdingen eingeschalteten Technischen Universität Dresden die Zukunftsfähigkeit ihrer Trasse berechnen muss.

Ob er den sogenannten Filderbahnhof plus durchsetzen will, der im Vergleich zu dem von der Bahn geplanten Flughafenbahnhof kürzere Wege für Fahrgäste bringen und Mischverkehr aus S-Bahnen und Regionalzügen in der heutigen S-Bahn-Station vermeiden würde? Da legt sich Kuhn, wie so oft, öffentlich nicht fest. Wenn sich für die Mehrkosten der Plus-Lösung keine Geldgeber finden, müsse man wenigstens die Antragstrasse so bauen, dass der S-Bahn-Verkehr später noch ausgebaut werden könne. „Wir brauchen eine zukunftsfähige Lösung, weil man solche Infrastruktur nicht alle 30 Jahre ändern kann.“ Ob er der Stadt rät, auch Geld zu geben, sagt er auch wieder nur widerstrebend und durch die Blume.

Gemäß Gemeinderatsbeschluss soll es keinen Cent mehr geben, als in der Finanzierungsvereinbarung für S 21 niedergelegt wurde. Ebenso vereinbart sei, dass die Stadt von 2020 an Zinsen für das von ihr gekaufte Gelände erhalten wird, wenn die Gleisanlagen zwischen Hauptbahnhof und Rosensteinpark dann nicht verwertbar sind. Was immer die Partner für die Verbesserung der S-21-Planung auf den Fildern noch aushandeln sollten – „die Finanzierungsvereinbarung können wir nicht mehr aufschnüren“, sagt Kuhn. Falls noch Regelungsbedarf entstehen sollte, müsse das außerhalb der Finanzierungsvereinbarung erledigt werden.

Einen Sondertopf für den Flughafenbahnhof plus hatte nach dem Filderdialog im Juni 2012 schon SPD-Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel angeregt, war jedoch am Widerstand der Grünen gescheitert. Inzwischen greift offenbar die Erkenntnis um sich, dass man sich eine bessere Zukunft für die S-Bahn nicht durch Murks auf den Fildern verbauen darf.

Für Kuhn ist klar, dass „dort nicht der Taschenrechner die Planung machen darf"

Stuttgart 21 kann und will Kuhn nicht zu seinem Projekt machen, das gilt auch knapp zwei Jahre nach dem Amtsantritt noch. Sehr viel Wert legt er aber darauf, dass man ihn als einen OB wahrnimmt, der nicht nur die rechtlich verbindliche Beschlusslage respektiert, sondern auch die Optimierung in Stuttgarts Sinne einfordert. Dem dient auch seine Absicht, 2015 eine „informelle Bürgerbeteiligung“ für das künftige Rosensteinviertel auf S-21-Flächen im Stuttgarter Talgrund in Gang zu bringen. Noch ehe die Verwaltung einen Vorschlag macht, sollen die „Experten des Alltags“ das Wort haben. Für Kuhn ist klar, dass „dort nicht der Taschenrechner die Planung machen darf." Dass also nicht die Renditeerwartungen das Konzept bestimmen dürfen. „Wir werden da nicht in ein großes Investorenkonzept gehen“, sagt er. Denn darin sieht er ja gerade einen der Unterschiede zum Vorgänger Wolfgang Schuster (CDU). Beim Umgang mit Investoren habe er „einen Paradigmenwechsel eingeleitet“.

Durchaus vorstellen könnte er sich, die Bürgerwünsche und das folgende Konzept der Verwaltung mit dem Vehikel einer „internationalen Bauausstellung“ zu realisieren. Dafür legt Kuhn aber eine hohe Messlatte auf. Nur mit den Leitideen des nachhaltigen Bauens und der Verkehrsreduzierung im Neubaugebiet könne man nicht operieren. Das ist ihm zu alltäglich. Das Thema, das man wählt, müsse auch 30 Jahre später Bestand haben. Das Miteinander von Reichen und Armen im Baugebiet könne so ein Ding sein, oder eine neue Form des Miteinanders von Wirtschaft und Wohnen. Sicherlich brauche man eine gesamtstädtebauliche Vision, sagt Kuhn. Man dürfe in das Gebiet nicht alles hineinstopfen, was in Stuttgart fehle. Überlegenswert findet er zudem, dass man das Gelände nicht komplett zubaut. Mit dem, was manche die Jahrhundertchance Stuttgart 21 nennen, verbindet er auch eine „Jahrhundert-Verantwortung“.

Klein-St. Pauli wird es so nicht geben. Das Leonhardsviertel als solches wird Rotlichtviertel bleiben

Kuhns Baustellen haben freilich nicht nur mit S 21 zu tun. Beim Gemeinderat ist er auch in der Pflicht, die schlimmsten Folgen der Armutsprostitution im Leonhards- und im Bohnenviertel in der Stuttgarter Innenstadt zurückzudrängen. Sein Konzept dafür wird längst sehnlichst erwartet. Die frühere Idee, die Prostitution auf ein kleines Reservat zu verweisen, ist vom Tisch. Klein-St. Pauli wird es so nicht geben. Das Leonhardsviertel als solches wird Rotlichtviertel bleiben. Allerdings soll die Stadt sich nach Kräften einkaufen und in neu erworbenen Gebäuden Studentenzimmer oder andere Wohnungen anbieten. Die Prostitution ganz abschaffen zu wollen wäre eine naive Erwartung, sagt Kuhn. Gegen die Straßenprostitution könne man vielleicht noch „mehr Stress machen“, allerdings auf die Gefahr hin, dass man sie nur 250 Meter weit verlagern könne.

Auch sonst versteht sich Kuhn als Reparaturbetrieb. „Ich repariere den Fehler, dass Bund, Land und Stadt sich in den letzten 15 Jahren aus dem Sozialwohnungsbau verabschiedet haben“, sagt er – und gibt sich optimistisch, dass man die zuerst von ihm und dann von einem Bündnis für Wohnen gefassten Ziele erreichen wird: 1800 neue Wohnungen pro Jahr, davon 600 als öffentlich geförderte und daher eher bezahlbare Wohnungen. Die Größenordnung sei machbar. Wenn man das Ziel mal verfehle, packe man die Differenz im folgenden Jahr drauf.

Wenn man ins Stuttgarter OB-Amt komme, sagt Kuhn, müsse man die Dinge abarbeiten, bei denen die Stadt Probleme habe: Verkehr und Wohnen, Beseitigung des Investitionsstaus bei Gebäuden und Verkehrswegen sowie Umsetzung der Energiewende. „Zuerst die Hausaufgaben, dann die Propaganda“, sagt Kuhn auf die Frage, ob es mit der Außenwirkung zu seinem Vorteil und dem Vorteil der Stadt nicht hapere. Nicht nur Talkshows, auch Facebook und Twitter sind bei ihm weiter hinten eingeordnet.

Nein, Fritz Kuhn ist nicht Boris Palmer.