Varieté-Show "Sommerfrische" im Schloss Solitude: Bock auf Barock Foto: Rudel

Bock auf Barock? Das Friedrichsbau Varieté hat seine Sommertour im Schloss Solitude gestartet. Klar wird unter anderem: Vor 250 Jahren sollte ein üppiges Becken die Leidenschaft erwecken. Was heute von den Damen kaschiert wird, konnte dereinst nicht fulminant genug betont werden.

Stuttgart - Charlotte die Flotte kommt durchs Fenster – um die Hüfte ist sie fast so breit wie hoch. Dennoch ist die Mätresse elastisch genug, um mit ihrem weiträumig ausgefahrenen Rokoko-Rock nicht im Rahmen stecken zu bleiben. In den Festsaal des Schlosses Solitude steigt Charlotte die Flotte durchs Fenster – und sie kommt aus einer anderen Zeit.

In dieser Zeit, also vor 250 Jahren, sollte ein üppiges Becken die Leidenschaft erwecken. Was heute von den Damen kaschiert wird, konnte dereinst nicht fulminant und gebärbereit genug betont werden. Unter Stuck-Engeln erleben 80 Varieté-Freunde am Premierenabend der schrägen Schloss-Show „Sommerfrische“ mit der großartigen Berliner Künstlertruppe Die Artistokraten, wie sich ein historisches Gemäuer jene Lebeherren und Lebedamen zurückzuholen scheint, die hier ein- und ausgegangen sind. Im Rückblick haben die Hofstaatsmänner und ihre Gespielinnen nur für einen Wimpernschlag der Geschichte die Chance erhalten, sich Ausschweifungen hinzugeben.

250 Jahre später kehrt barockes Ausflippen zurück. Huldigung! Das Friedrichsbau Varieté macht’s möglich. Nach dem Rauswurf aus der seit 1994 bespielten Rotunde der L-Bank geht die Traditionsbühne auf Reisen, ehe sie im September das neue Domizil, eine Holzhütte aus Belgien, auf dem Pragsattel beim Theaterhaus bezieht. Die erste Station der Sommertour ist der einstige Speise- und Festsaal von Herzog Carl Eugen auf Schloss Solitude – so pompös war die Spielstätte des Friedrichsbau noch nie. Eine opulente Dinner-Schloss-Show ist ein Novum in der über 100-jährigen Geschichte des Stuttgarter Varietés.

Zwischen den Gängen des Küchenkünstlerteams von Jörg Mink, das viele glücklich macht, liefern die Spaßakrobaten von Adelsclown Martin van Bracht (für Mittwoch gibt es noch Karten) die Show zum prunkvollen Kulturdenkmal. Irrsinn deluxe. Fast jeder von ihnen hat einen weißen Pudel auf dem Kopf, also eine Barock-Perücke. Als Zeremonienmeister tritt mit anarchischem Witz ein Pudelträger an, der sonst mit Entertainer Roland Baisch bunte Abende aufleben lässt: Otto Kuhnle zieht Charlotte die Flotte aus dem Fensterrahmen und jubiliert: „Welch heiteres Treiben zwischen den Scheiben!“ Herrlich, wie Kuhnle und Co. die Menügänge im Chor vorsingen: „Kalbsbäckele mit Senfsößele.“

Palazzo lässt grüßen? Timo Steinhauer, der neue, junge Chef an der Seite von Friedrichsbau-Direktorin Gaby Frenzel, sieht es anders. „Von einer normalen Dinner-Show heben wir uns total ab“, sagt er, „wir bespielen eine Original-Location und möchten das höfische Leben auf die Solitude zurückbringen.“ Als Herzog Carl Eugen turnt Martin van Bracht mit Lustknaben und holt Mona Lisa aus dem Bilderrahmen. Der 54-Jährige ist ein Meister des Timings, ein alter Hase im zirzensischen Geschäft, der sich an der Berliner Artistenschule als Dozent um den Nachwuchs kümmert. Liebenswürdig und naiv ist er – gleichzeitig lüstern und voller Lebensgier, Fürs hormonelle Remmidemmi breitet er eine „Sommerwiese“ aus Goldpapier aus: „Wenn man sich mit festem Mut / Schnittlauch in das Rührei tut.“ Bei ihm kommt die Mätresse durchs Fenster.

Der echte Carl Eugen stieg über Stufen im Kamin zu einem Geheimgang, der zum Kavaliersanbau führt – dort warteten die nächsten Gespielinnen. Auch wenn der Schlossherr mit 77 unehelichen, von ihm anerkannten Söhnen kein Vorbild für die Ehe sein kann, ist Solitude zu einem Magneten für verliebte Ja-Sager geworden. Fast jedes Wochenende bis Herbst ist Jörg Minks Restaurant zwecks Ehestarts ausgebucht. Nächsten Samstag feiert Kabarettist Christoph Sonntag hier seine Hochzeit. Welche Frau wohl bei ihm durchs Fenster steigt?