Christine Chu Foto: Max Kovalenko

Übers Fremdsein denkt Christine Chu am Beispiel ihres aus Nordkorea geflohenen Vaters in einem neuen Tanzstück nach. Fremdsein – auch für die anderen Künstler der freien Szene in Stuttgart kein Fremdwort. Im Juni müssen sie das Ost verlassen, dann sind sie wieder ohne eigene Spielstätte.

Stuttgart - Damals in Burladingen, wo seine deutsche Frau als Lehrerin arbeitete, war der Herr Chu aus Nordkorea eine kleine Sensation. „Die Menschen kamen im Auto angefahren, um meinen Vater, den Asiaten, zu sehen“, sagt Christine Chu. Ständig angestarrt zu werden: Das kennt die Stuttgarter Choreografin selbst aus ihrer Kindheit, die sie in Gniebel bei Tübingen verbracht hat. „Es war einfach so, dass wir Exoten waren.“

Wie fühlt es sich an, fremd zu sein? Wie ist es, wenn man nie ganz ankommt, weil man anders aussieht? Das sind Fragen, die Christine Chu in ihrem neuen Tanzstück bewegen. „Arirang – wo ist Nordkorea?“ heißt es nach einem koreanischen Volkslied, das als Leitmotiv von der Sehnsucht nach Heimat erzählt, aber auch von der Entfremdung von ihr. Auf den Spuren ihres Vaters gräbt sich Christine Chu, die selbst als einzige Darstellerin auf der Bühne sein wird, zu den eigenen Wurzeln vor. Aufgewachsen ist ihr Vater in einem Land, das japanische Kolonie war und nach dem Zweiten Weltkrieg von Russland besetzt wurde. Vor dem Korea-Krieg floh ihr Vater in die USA; ein Studium brachte ihn über London nach Tübingen.

„Es ist ein einzelnes Schicksal, aber kein außergewöhnliches – und ein sehr aktuelles“, sagt Christine Chu. Sie denkt an die vielen Vertriebenen, die nach dem Krieg nach Schwaben kamen, und an die täglichen Bilder, die uns Menschen auf der Flucht aus Syrien oder Afrika zeigen. Ein Zurück gab es auch für ihren Vater nicht. „Korea ist kein Land, in dem er leben kann, aber im Herzen ist er doch Koreaner.“ Ein Leben im Schwebezustand, nennt es Christine Chu, die ihren fast 80-jährigen Vater in Tonaufzeichnungen zu Wort kommen lässt. Ein Dokument, das nicht nur traurige und komische Anekdoten bereit hält, sondern auch verblüfft: wie ein Einzelner zum Spielball der Weltpolitik wird, was ein Mensch so alles erleben kann.

Als Spielball der Politik: So mögen sich vielleicht auch die Künstler der freien Szene in Stuttgart fühlen. Im Ost, dem ehemaligen Theater im Depot, hatten sie endlich eine eigene Spielstätte erhalten, allerdings nur auf Zeit; Ende Juni müssen sie aus dem ehemaligen Straßenbahndepot raus. Christine Chu, deren Tanzstück „Arirang“ an diesem Samstag dort Premiere hat, findet einen solchen Ort aus mehreren Gründen wichtig. „Nur eine eigene Spielstätte ermöglicht es zu sehen, wie viele Künstler die Stuttgarter Szene hat und in welcher Bandbreite sie arbeiten.“ Freie Künstler, schildert Christine Chu am eigenen Beispiel, seien oft mehrfach belastet. Sie selbst unterrichtet an der Kunstakademie im Fachbereich Intermediales Gestalten; da als Choreografin nicht noch nach einem Aufführungsort suchen, Equipment besorgen und Pressearbeit machen zu müssen sei eine große Hilfe.

Für die Identität der freien Szene ist in den Augen von Christine Chu ein ausgestalteter Ort wie das Ost wichtig. Wie es sich anfühlt, heimatlos zu sein, hat sie in der eigenen Familienbiografie erfahren und überträgt diese Geschichte nun in Tanz – begleitet von der koreanischen Schlagzeugerin Se Mi Hwang und dem deutschzypriotischen Musiker und Komponisten Thomas Maos.

Für Christine Chu selbst dagegen verbindet sich der Begriff Heimat seit 2003 wieder ganz klar mit der Stuttgarter Region. Davor war sie mit der in Frankreich beheimateten Kompanie von Carlotta Ikeda und als Tänzerin der portugiesischen Companhia Paulo Ribeiro viel unterwegs. „Auch wenn ich 50 Jahre hier gelebt haben werde, sehe ich immer noch anders aus. Aber die Leute sollen denken, was sie wollen: Ich bin hier zu Hause“, sagt Christine Chu.

Geerbt hat sie durch die Geschichte ihres Vaters einen kulturellen Reichtum, den sie zuerst schwer einordnen konnte. „Der asiatische Anteil im Chu-Stil ist ziemlich hoch“, sagt die Tänzerin, die früh vom japanischen Butoh fasziniert war. „Wenn nun in ,Arirang‘ die koreanische Trommel erklingt, fühle ich mich zu Hause“, sagt Christine Chu. Wie viel von welcher Kultur steckt in Menschen mit Migrationshintergrund? „Auch ich bin auf der Suche, deshalb mache ich dieses Stück.“

„Arirang“ hat an diesem Samstag im Ost Premiere. Noch am 26. April, 28., 29. und 30. Mai, jeweils um 20 Uhr.