Aktuell Spielstätte der Freien Szene: das Ost Foto: Max Kovalenko

Nur noch bis Ende Juni haben Künstler der Tanz- und Theaterszene im Ost eine Bühne. Wie es weitergehen soll, wenn die Spielstätte geschlossen wird, wo und wie die freie Szene eine Bleibe finden könnte, darüber haben Künstler und Politiker diskutiert.

Stuttgart - Seit Jahren tingelt die freie Szene durch die Lande, um ihre Produktionen zu präsentieren. Hier ein kleines Theater, dort ein Sozialkaufhaus, dann und wann der öffentliche Raum und schließlich für ein Jahr das Ost. Am 30. Juni ist aber im gut besuchten ehemaligen SSB-Straßenbahndepot Schluss – die Künstler stehen „auf der Straße“, allerdings mit der Hoffnung, im IW8 in Feuerbach (ehemalige Behr-Werke) ein Produktionszentrum beziehen zu können.

Doch wann und zu welchen Bedingungen? Das wird von Entscheidungen des örtlichen Gemeinderates abhängen. Schon droht das nächste Fiasko: Sollte der Gemeinderat tatsächlich bei seinen Haushaltsberatungen im Dezember 2015 genügend Geld in die Hand nehmen, um das avisierte Produktionszentrum starten und am Laufen halten zu können, bleibt noch immer ein Vakuum von Ende Juni an für vermutlich mindestens acht Monate – der Umbauarbeiten wegen. Unter dem Motto „Frei verankert“ suchten und fanden nun etwa 90 freie Tanz- und Theaterkünstler in einem Symposium des Landesverbandes Freier Theater Baden-Württemberg und des Ost – Freie Szene im Depot den Schulterschluss.

Am Katzentisch der Politik

„Die Situation der freien Theater ist prekär“, sagt Henning Fülle. Er war freier Dramaturg (unter anderem Kampnagel Hamburg), dem renommierten Ort für Projekte der freien Szene. Er forscht über Entstehung, Entwicklung und Bedeutung des freien Theaters in Deutschland. Etwa 150 Stadt- und Staatstheater in Deutschland verfügten über ein Budget von etwa 2,3 Milliarden Euro aus öffentlichen Haushaltsmitteln; die freie Szene mit etwa 26 000 Künstlern müsse mit 100 Millionen Euro auskommen, sagte der Kulturforscher beim Symposium. Fülle: „Für die Freien ist das ökonomisch Harakiri.“ Die freie Theater- und Tanzszene sei „ein Parallelsystem des Stadt- und Staatstheaters“ und verdiene die Wahrnehmung durch die Politik. „Doch was ist stattdessen zu beobachten? Das freie Theater wird am Katzentisch der Kulturpolitik gehalten“, so Henning Fülle.

Seismografische Arbeit

„Künstler reagieren seismografisch auf den Puls der Zeit, davon profitieren alle“, sagt Bea Kießlinger. „Die Arbeit von 90 freien Künstlern im Bereich Tanz und Theater in dieser Stadt, das ist ein Pfund, mit dem hier gewuchert werden sollte“, bekräftigt die langjährige Mitstreiterin für die Stuttgarter Sache und heutiges Vorstandsmitglied Dachverband Tanz. Die Kraft dieser Szene müsse gestärkt und gebündelt werden, dazu brauche es ein Produktionszentrum mit genügend Infrastruktur, sagt Kießlinger: „Künstler haben nicht die Aufgabe, sich kulturpolitisch zu profilieren, sie müssen sich auf ihre Kunst konzentrieren.“ Und sie warnt vor dem Schielen auf die Quote: „Stuttgart wird immer eine Stadt bleiben, die auf die sogenannte Auslastung, also auf Besucherzahlen schaut.“

Impulse aus Berlin

40 000 bis 50 000 freie Künstler leben in Berlin, diese Zahl brachte Christophe Knoch aus der Hauptstadt mit. Diese Künstler sprächen inzwischen erfolgreich „mit einer Stimme“, nämlich seiner. Dies sagte der Sprecher der „Koalition der freien Szene in Berlin“, zu der auch Musiker und bildende Künstler gehören. Neun Prozent Wirtschaftswachstum verzeichne Berlin durch den Tourismus. „Doch das Alleinstellungsmerkmal, das Touristen in Berlin suchen, ist nicht die Oper, das sind die Überraschungen auch der freien Szene“, so Christophe Knoch. Nach zähen Verhandlungen mit der Politik sehen die Berliner Künstler nach einem neuen Haushaltsentwurf im Juni dieses Jahres „der Verdoppelung der bisherigen zehn Millionen Euro Fördermittel“ entgegen. Knoch: „Wir haben in einer Kampagne schon 2013 gesagt, der Geist ist flüchtiger als Kapital, haltet ihn fest.“

Optimistisch in die Zukunft?

Ginge es nach den Stuttgarter Gemeinderäten Jürgen Sauer (CDU) und Andreas Winter (Grüne), könnte die freie Szene optimistisch in die Zukunft schauen. „Die Finanzierung der ein Jahr währenden Arbeit im Ost lief, was die städtischen Gelder betraf, bei null, zur Finanzierung eines Produktionszentrums muss man viel Geld ausgeben, die freie Szene soll einen Ort haben, an dem sie sich zeigen kann“, denkt Andreas Winter beim Symposium laut nach.

„Wir brauchen noch vor der Sommerpause einen Raum- und einen Finanzierungsplan, mit dem wir in die Haushaltsberatungen gehen können“, sagt sein Kollege Jürgen Sauer, gibt aber zu bedenken, dass „er und Andreas Winter nur zwei Sechzigstel des Gemeinderates“ seien. Deshalb bittet Jürgen Sauer: „Wir brauchen Druck aus der Szene, den wir aufnehmen können.“ Einig sind sich dann schließlich alle: Druck kann nur ein Projektentwickler machen. Der aber müsste ziemlich kurzfristig finanziert werden.