Das allererste Bild mit Sophie: Sie kommt vielsagenderweise aus dem Schrank. Foto: Salleck Publications

Man denkt bei den knuffigen Figuren der frankobelgischen Comics gewiss nicht an Macho-Gehabe. Aber es hat lange gedauert, bis eine Frau in diesen Bildgeschichten etwas zu sagen hatte. Der erste Band der „Sophie“-Gesamtausgabe führt vor, wie 1964 eine bahnbrechende Heldin geboren wurde.

Stuttgart - Minirock, Stiletto-Absätze, enge Bluse, große Augen, die etwas von der Welt sehen wollen: Es war eine ziemlich kesse Biene, wie Männer damals sagten, circa 18 Jahre alt, die der Comiczeichner Jidéhem 1963 seinem Verleger Charles Dupuis als mögliche Heldin einer neuen Serie im Magazin „Spirou“ vorschlug. Dupuis wehrte ab, denn er sah Ärger mit der Zensur voraus. Das mag heutigen Lesern absurd erscheinen. Aber selbst die frankobelgische Comicszene wurde damals von Tugendwächtern, die gezeichnete Geschichten als gesellschaftliche Fäulnisstellen betrachteten, drangsaliert.

Jidéhem ließ sich dadurch zum Glück nicht völlig entmutigen. Er machte aus dem Teenager ein kleines Mädchen und ließ diese Sophie als Nebenfigur in einer anderen Reihe 1964 buchstäblich aus einem Schrank kommen. Damit traf er einen Nerv bei Lesern und Leserinnen. Sofie wurde die erste Heldin der bis dahin frauenarmen frankobelgischen Comics überhaupt.

Alle Ängste werden wahr

Der erste Band der Gesamtausgabe zeigt die vorwitzige Zöpfchenträgerin noch nicht in der bahnbrechenden Hauptrolle. Zunächst trat Sophie als Nebenfigur in den Abenteuern zweier Männer auf, Starter und Pipette. Dieser Starter war trotz seines forschen Namens zunächst gar keine Comicfigur mit großen Aussichten gewesen, sondern bloß ein Belebungselement für eine gezeichnete Autokolumne in „Spirou“. Aber schließlich wurden ihm und seinem Mechaniker-Kumpel Pipette eben doch längere Geschichten zugestanden.

Als Sophie aus dem Schrank durfte, begann das dritte Abenteuer um Starter und Pipette, „Das Ei des Karamazout“. Offiziell hätten auch weiter Jungs und Autos im Mittelpunkt der Serie stehen sollen. Wie weit Jidéhem, der als André Franquins Assistentviel zu „Spirou und Fantasio“ beitrug, schon damals anderes mit Sophie im Sinn hatte, weiß man nicht. Jedenfalls entwickelte die Göre eine ungeahnte Dynamik und degradierte die früheren Stars der Reihe bald zu Nebenfiguren und kam selbst auf den Titel. Mit anderen Worten: Alle Ängste der feigen Frauenfeinde, Männer könnten von emanzipierten Frauen an die Wand gedrückt werden, bewahrheiteten sich hier.

Sophie war so erfolgreich, dass Jidéhem später das zweite Starter-Album, „Das Haus gegenüber“, für eine Neuauflage leicht umschrieb, einige Bilder ergänzte und einige austauschte. Im ursprünglichen Heft war Sophie noch gar nicht vertreten gewesen. Nun erfand Jidéhem eine Rahmenhandlung, in der Sophie auftreten konnte, und ließ Starter von früher erzählen. Diese Fassung ist im ersten Band der „Sophie-Ausgabe“ enthalten, zusammen mit „Das Ei des Karamazout“ und dem ersten Starter Abenteuer ohne Sophie und auch ohne Sophie-Rahmenhandlung. Obendrein gibt es, wie bei den Gesamtausgaben frankobelgischer Klassiker im Salleck-Verlag üblich, ein informatives Vorwort, das sich an ernstlich an Comic-Geschichte interessierte wendet.

Der Trubel der frühen Jahre

Wer also partout und ausschließlich an Sophie interessiert ist, die in den ersten deutschen Comic-Ausgaben im Rolf-Kauka-Verlag noch „Die lustige Lilly“ hieß, der sollte bei diesem Band vielleicht noch nicht zugreifen. Bei vielen der akribischen Comic-Gesamtausgaben tritt ja das Problem auf, dass die Figuren zumindest im ersten Band noch gar nicht ihre spätere, vertraute Erfolgsform haben. Anders aber als beispielsweise bei der Fliegerreihe „Buck Danny“ haben wir es beim „Sophie“-Debüt nicht mit ungelenken Geschichten und angestaubten Zeichnungen eines noch unerfahrenen Teams zu tun.

Wir können hier sehr typische, also elegante, karikaturenspritzige, trubelige Geschichten der sogenannten Marcinelle-Schule des frankobelgischen Comics widerentdecken . Die Marcinelle-Zeichner lieferten dynamische, gern auch mal wuselige, stark auf Bewegungseffekte setzende Bilder, im Kontrast zu den klaren, ruhigen Bildaufbauten der von Hergés „Tim & Struppi“ definierten Ligne claire. Es gibt in Band 1 der „Sophie“-Gesamtausgabe kindgerechte Detektivgeschichten, liebevoll gezeichnete Autos, Provinzecken zum Wegträumen: Man kann das als Comic-Historie sehr mögen, auch wenn Sophie erst später groß auftreten wird.