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Der Hirnforscher Manfred Spitzer über die Bedeutung der Frühförderung von Kindern.

Stuttgart - „Auf den Anfang kommt es“ – so lautet der Titel einer weiteren Veranstaltung unsere Reihe „Forum Bildung“, bei der der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer über Frühförderung sprechen wird.


Herr Spitzer, warum sollten sich Eltern, Erzieher, Lehrer mit der Gehirnforschung beschäftigen?

Die moderne Gehirnforschung beschäftigt sich vor allem mit Lernprozessen. In einer Vielzahl von Studien – jährlich werden 40 000 Arbeiten im Bereich der Gehirnforschung publiziert – geht es darum, unter welchen Bedingungen man besser lernt, wie Lernen überhaupt funktioniert und was man tun kann, um die Verfestigung des Gelernten zu verbessern, um nur einige Beispiele zu nennen. Aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass diese Ergebnisse und Erkenntnisse an Schulen, Kindergärten oder auch an der Universität völlig vorbeigehen. Dabei bin ich der Auffassung, dass jegliches Lehren und Lernen von den Erkenntnissen der Gehirnforschung in hohem Maße profitieren kann.

Wie lernen wir?
Lernen ist für den Menschen etwa so wichtig wie das Atmen oder der Herzschlag. Wir sind Wesen, die auf nichts weiter spezialisiert sind als auf das Lernen. Daher lernen wir lebenslang und sind wahre Lernwunder. Wer glaubt, Lernen mache keinen Spaß, oder wer denkt, dass Lernen doch etwas sei, zu dem man sich täglich durchringen müsse, der hat noch nie ein kleines Kind dabei beobachtet, wie es Laufen oder Sprechen lernt. Lernen ist – eine der wichtigsten Einsichten aus der Neurowissenschaft der vergangenen Jahre – aufs Engste mit positiven Emotionen verknüpft!

Warum lernen manche gern, andere nicht?
Eigentlich lernen alle Menschen sehr gerne und mit großem Spaß. Wer das nicht glaubt, der schaue nur einmal einem kleinen Kind zu: Was immer es tut, es ist sehr neugierig und aufmerksam und lernt beispielsweise alle 90 Minuten ein neues Wort und hat schon das Laufen gelernt. Hierzu hat es sich wochenlang irgendwo an einem Stuhlbein oder Tischbein in die Höhe gezogen und ist wieder hingeplumpst. Wenn Sie wissen wollen, was Frustrationstoleranz ist: Schauen Sie einem kleinen Kind beim Laufenlernen zu. Ich kenne kein einziges, das nach acht Wochen Versuchen zu sich gesagt hat: „Mit dem Laufenlernen, das lasse ich jetzt sein. Ich bin völlig frustriert und werde das wohl nie schaffen.“ So etwas kommt nicht vor. Zumindest nicht bei kleinen Kindern. Später dann sprechen wir bei der Schule vom Ernst des Lebens und beginnen letztlich systematisch unseren kleinen Lernwundern die Lust am Lernen abzugewöhnen. Das müsste nicht so sein!

Auf den Anfang kommt es an, sagen die Experten. Was lernen Kinder in der Familie?
Im Grunde genommen wird das Wichtigste schon vor der Schule gelernt: Laufen, Sprechen, sich Benehmen, sich in der Gemeinschaft Zurechtfinden. Antworten, Fragen stellen und überhaupt die Grundsätze des Miteinanders zu beherrschen.

Derzeit wird die Kinderbetreuung ausgebaut. Was ist dabei wichtig?
In der Kinderbetreuung kommt es auf genau das Gleiche an. Wir sollten vermeiden, diesen Zeitraum zu verschulen. Wichtig ist nicht, den Zahlenraum von 1 bis 20 zu beherrschen oder das ABC. Sondern es kommt darauf an, stillsitzen zu lernen, zuhören zu können und konzentriert arbeiten zu können. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass man dies tatsächlich im Alter von drei, vier oder fünf sehr gut lernen kann, vorausgesetzt, dass die Umgebung auch darauf achtet.

Was können Lehrer tun, um Schülern die Lust am Lernen nicht zu verderben?
Lehrer können sehr viel tun. Wer immer nur darauf achtet, was ein Kind nicht kann, statt das Kind mit Dingen zu beschäftigen, die es schon kann, macht etwas falsch. Wir wissen aus der Rehabilitation von kranken Menschen: Es nützt nichts, sie damit zu triezen, was sie nicht können. Mit ihren Stärken zu arbeiten funktioniert hingegen sehr gut, so dass man über das Training von Stärken langfristig auch Schwächen ausgleichen kann. In den Schulen hat sich diese Einsicht noch nicht herumgesprochen. Wir legen permanent den Fokus darauf, was ein Kind nicht kann, und nicht darauf, was es schon kann. Weiterhin sind Ironie, Sarkasmus und Zynismus an unseren Schulen flächendeckend zu Hause! Dies führt zu Angst, und Angst macht Lernprozesse kaputt. Die Lehrenden könnten zum Beispiel wissen, dass das Versagen in Mathematik vor allem darauf beruht, dass man Angst hat. Wer Angst hat, ist nicht kreativ, und in Mathematik muss man dies sein. „Lisa, komm mal vor, du konntest es doch gestern schon nicht“ sorgt dafür, dass bei Lisa Prozesse der Angst im Kopf ablaufen, die Kreativität zunichte machen. Auch wenn Lisa gelernt hat und mathematisch begabt ist, wird die Angst dafür sorgen, dass sie erneut versagt. Wer solche Erlebnisse oft genug gehabt hat, ist in Mathematik einfach nicht mehr gut und wird es auch nicht mehr werden. Dies ist nur ein Beispiel. Ich glaube, dass Lehrende in hohem Maße von den Einsichten der Neurowissenschaft profitieren könnten.