Hirnforschung kann Spaß machen: Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer, links neben dem Stuttgarter Schulleiter Ulrich Groß, hat die Gabe, Wissenschaft unterhaltsam zu vermitteln. Mehr Bilder von dem Abend finden Sie in unserer Bildergalerie. Foto: Peter-Michael Petsch

Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer und der Stuttgarter Pädagoge Ulrich Groß über Frühförderung.

Stuttgart - Hirnforscher! Das klingt ein wenig nach Frankenstein und unheimlichen Experimenten. Aber auch nach Selbstüberschätzung, denn die Gedanken sind frei, oder? Wer den Ulmer Wissenschaftler Manfred Spitzer hört, kommt da ins Zweifeln. Zwar hantiert der Psychiatrieprofessor nicht mit dem Skalpell, sondern zieht Schlüsse aus Tests und bildgebenden Verfahren. Doch damit hat seine Zunft zuletzt mehr herausgefunden als ganze Ärztegenerationen zuvor.

„Im Scanner können wir sehen, welchen Buchstaben Sie gerade lesen“, verblüfft er die 500 Zuhörer unseres Forums Bildung im Stuttgarter Rathaus. Dem Gehirn beim Funktionieren zugucken, nennt er das und schwärmt: „Wir wissen heute Dinge, die hätten wir vor zehn Jahren noch nicht zu fragen gewagt.“

Nun gut, Spitzer ist kein Leisetreter und auch kein Stubengelehrter, der sich auf die Zunge beißt. Der Chef der Uniklinik für Psychiatrie ist vielmehr ein Wissenschaftsentertainer, ein Ranga Yogeshwar, der aus eigener Quelle schöpft. Manchmal zeigt er sogar kabarettistische Qualitäten, wenn er sich etwa an seinem Lieblingsfeind abarbeitet: dem PC im Klassenzimmer. Doch eigentlich schlägt er nur deshalb die Pauke, weil er will, dass seine Erkenntnisse in den Kinder-, Lehrer- und Ministerzimmern gehört werden.

In Kindergärten investieren

Je jünger der Mensch ist, desto besser lernt er, lautet eine davon. Das klingt trivial, doch Spitzer spinnt den Gedanken weiter: Wer wolle, dass die Menschen klug, wohlhabend, und, jawohl, glücklich werden, der müsse mehr in Kindergärten investieren: „Wir wissen, wie riesig dort die Bildungsrendite ist.“ Von einer Schule, die den Ernst des Lebens einläutet, hält er folgerichtig nichts. Spaß soll Lernen machen. Neugier zu wecken, hält er für das A und O: „Das ist nicht so dahergesagt, das kann man nachweisen.“

Bei Ulrich Groß, dem zweiten Gast des Abends, den unsere Bildungsredakteurin Maria Wetzel moderiert, rennt Spitzer damit offene Türen ein. Der Leiter der Stuttgarter Römerschule arbeitet schon seit Jahren eng mit Kindergärten zusammen, um einen gleitenden Übergang zu erreichen. Aber auch später dann im Klassenzimmer sollen sich die Kinder mit allen Sinnen entwickeln können, lautet sein Credo.

Bewegung ist wichtig, da sind sich der Pädagoge und der Psychiater einig, und natürlich Musik. Auch das richtige „Lernfenster“ sei wichtig, meint Groß, also der Zeitpunkt, wann ein Kind was lernt. Spitzer hakt ein: „Nicht wichtig ist der PC.“ Hier wird er fast missionarisch. „Die Welt per Mausklick zu erkunden ist keine gute Idee“, sagt er und bemerkt beiläufig, es lohne nicht mal, sich zu viele Gedanken über gutes Spielzeug zu machen. Lieber mit Kindern in den Wald gehen: „Da ist für jeden etwas dabei.“

Konzentration und Selbstkontrolle lernen

Konzentration und Selbstkontrolle lernen

Keinen Euro würde er für den Kauf von Schulcomputern ausgeben, sagt er und wischt alle Argumente vom Tisch, die auch nur im Ansatz dafür sprechen könnten. Stattdessen warnt er vor „digitaler Demenz“ – einer seiner Begriffsknaller, die das Publikum jauchzen lassen. „Das ist zwar unmodern“, setzt er nach, „aber ich sag’s trotzdem, und ich hab’ recht.“

Was sollen Vorschulkinder also lernen? Jedenfalls nicht den Zahlenraum von 1 bis 20, meint der Professor. Sondern Grundsätzliches wie Konzentration oder Selbstkontrolle. Und wie lernt man das? Indem man zum Beispiel „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ auf U singt. „Das ist Frontalhirntraining pur“, sagt Spitzer und setzt, noch während das Publikum lacht, eine Pointe drauf: Richtige Frühförderung verbessere nicht nur die Gesundheit, das Einkommen, sondern auch die Lebenszeit.

Eine hohe Messlatte für Pädagogen wie Ulrich Groß. Der sieht die Rahmenbedingungen allerdings nicht immer so, dass sich Spaß am Lernen auch vermitteln lässt. „Wir brauchen Zeit und Ruhe, denn in Klassen mit 25 Schülern gibt es ein großes Spektrum“, antwortet er auf die Frage, wie man den Schulen denn helfen könne. Vor allem wünscht er sich mehr Engagement von den Eltern: „Schule und Elternhaus müssen an einem Strang ziehen.“ Doch das sei eben leider nicht immer der Fall.

An Eltern mangelt es – wie schon in den vier Veranstaltungen zuvor – an diesem Abend nicht. In ihren Fragen spannen sie den thematischen Bogen auch erheblich weiter als bis zur Frühförderung. Was die Referenten denn von Noten und der Grundschulempfehlung halten, wollen einige wissen.

„Schön, dass die Eltern bei der Schulwahl nun mehr Freiheit haben“, sagt Spitzer. Aber sie dürften nun nicht mit der Brechstange vorgehen, denn eine falsche Schulwahl könne eine Bildungsbiografie auch ruinieren. „Noten sind wichtig, auch Kinder wollen wissen, wo sie stehen“, sagt Groß. Allerdings empfiehlt er, eher zu benennen, was ein Kind kann, anstatt zu bemängeln, was es nicht kann. Spitzer nickt entschieden.

Einem Stuttgarter Gymnasiallehrer ist das alles nicht geheuer. „Leben wir nicht bereits in einer Spaßgesellschaft?“, fragt er provozierend. Seien nicht auch Verzicht und Mühe notwendig, um zum Ziel zu gelangen?

Klassenzimmer ohne Fernseher

Klassenzimmer ohne Fernseher

Spitzer präzisiert: „Ich bin der Letzte, der will, dass Lehrer dauernd Spaß machen.“ Die Kinder und Jugendlichen sollten selbst den Berg hochsteigen, anstatt sich hochtragen zu lassen. Die Frage ist für ihn jedoch, ob sie dies aus Neugier und Lust an der Herausforderung tun oder aus Angst. „Sie können auch mit Angst schnell lernen, aber dann verbinden Sie dieses Gefühl immer mit dem Inhalt.“

Auch Spitzers Computer-Aversion irritiert manche im Publikum. „Der PC gehört zur heutigen Lebenswelt doch dazu“, gibt eine junge Frau zu bedenken. Sei er da in seiner Haltung nicht viel zu radikal?

„Ich bin nicht militant gegen Neue Medien“, rechtfertigt er sich, rechnet dann aber vor, wie lange junge Menschen heutzutage vor einem Bildschirm sitzen. Der durchschnittliche Konsum liege bei sechs Stunden am Tag, die Schule liege weit darunter: „Die Kinder verbringen ohnehin schon 50 Prozent mehr Zeit vor dem Bildschirm als in der Schule.“ Da müsse der Bildschirm, ob von TV oder PC, nicht auch noch im Klassenzimmer flimmern.

„Der Käsekuchen ist tückischer als harte Drogen“

Zumal er das Fernsehen noch auf einem ganz anderen Feld für schädlich hält: bei der Werbung für Nahrung. „Wir bringen den Kindern in der Fernsehwerbung dauernd bei, dass sie etwas essen sollen, was sie krank macht.“ Man fördere die Dickleibigkeit geradezu – und das wirft er besonders den angebliche kalorienarmen Süßigkeiten vor. Die störten nämlich nachhaltig das eigene „Belohnungssystem“, warnt der Arzt.

Den Mechanismus beschreibt er ungefähr so: Man dürfe mehr essen, was dazu führe, dass der Körper sein Regelsystem anpasse und als Belohnung mehr einfordere. Dann aber müsse man immer mehr essen. Mit Nahrung funktioniere das noch viel nachhaltiger als mit Heroin – eine Erkenntnis, die er in einen Spitzer-typischen Knalleffekt münden lässt: „Der Käsekuchen ist tückischer als harte Drogen.“ Sein Vorschlag: An Kinder gerichtete Werbung für Essen verbieten.

Neurobiologie im Schnelldurchgang. Spitzer weiß, dass er dabei nur sehr holzschnittartig argumentieren kann. Aber die Menschen sollen etwas lernen. Außerdem sitzen an diesem Abend ohnehin viele Pädagogen im Publikum. Als er etwa auf die Frage, was er von Waldorfschulen hält, antwortet: „Super, solange sie nicht versteinern“, prustet das Publikum vor Lachen. Dann fügt er trocken hinzu: „Jetzt weiß ich, dass Sie’s behalten.“ Lernen muss eben Spaß machen.