Deutsch ist für diese Kinder bisher eine Fremdsprache, aber Mathe ist international. Foto: Judith A. Sägesser

Einige von ihnen waren vor Kurzem noch auf der Flucht. In Heumaden lernen die Kinder in einer Vorbereitungsklasse das, was sie hier am dringendsten brauchen: Deutsch. Nach einem Jahr sollen sie so weit sein, dass sie am normalen Unterricht teilnehmen können.

Heumaden - Jetzt ist Andi dran. „Ich habe eine braune Falte geschachtelt“, sagt er, alle lachen. Die Kinder haben gleich gemerkt, dass Andi da etwas durcheinander gebracht hat. Er ist noch nicht lang in Stuttgart, vor drei Monaten waren er und sein Bruder noch auf der Flucht. Da war ans Schachtelfalten nicht zu denken. Nun sitzt Andi mit sieben anderen Kindern in einem Klassenzimmer der Grundschule Heumaden. In einer sogenannten Vorbereitungsklasse. Das sind Klassen für Kinder, die kein oder kaum Deutsch sprechen. Manche kennen auch nur arabische Schriftzeichen. Nach einem Jahr sollten sie so weit sein, dass sie am normalen Schulunterricht teilnehmen können.

Andi ist nicht der Einzige, der die meisten deutschen Wörter noch nie gehört hat. Die Kinder sitzen um den Tisch und falten farbiges Papier, machen es den beiden Lehrerinnen nach und lernen beim Basteln, dass Schere Schere heißt und Kleber Kleber. Was sie noch nicht wissen: Wofür sie die bunten Schachteln gleich brauchen werden.

Die Lehrerin hält ein Kästchen hoch und fragt: „Was ist in meiner Schatzkiste?“ Während andere Grundschüler die Finger nach oben gestreckt und wild durcheinander geraten hätten, schweigen diese Kinder. Es ist sowieso ungewöhnlich ruhig im Raum, es wird höchstens mal geflüstert. Sie sind sehr schüchtern, und daran ändert auch der Inhalt der Schatzkiste nichts. In ihr befinden sich lauter in bunte Alufolie eingepackte Schokokugeln. Nicht zum Vernaschen, sondern als eine Art Taschenrechner. Für einige der Kinder ist Deutsch zwar eine Fremdsprache, aber Mathe ist international. Weil einer der Jungs die Aufgaben ruckzuck löst, hat die Lehrerin für ihn ein zweites Blatt parat.

72 Vorbereitungsklassen an 36 Standorte

Die acht Kinder in der Heumadener Vorbereitungsklasse sind zwischen sieben und neun Jahre alt. Derzeit sind fast alle Flüchtlingskinder, sie sind in Heumaden, Wangen oder Kemnat gestrandet. Ein Junge ist von Kroatien nach Deutschland gezogen, weil seine Eltern hier einen Job gefunden haben. Stadtweit liegt der Flüchtlingsanteil in den Vorbereitungsklassen bei 30 Prozent, das ist laut Staatlichem Schulamt ein Höchststand. Entsprechend viele dieser Förderklassen gibt es. In Stuttgart waren es im vergangenen September 72 Vorbereitungsklassen an 36 Standorten. Knapp die Hälfte davon sind Klassen für ältere Kinder, der Rest für Kinder im Grundschulalter wie Andi und die anderen.

„Fertig“, sagt Sibilla. Sie sagt das ziemlich oft. Ein Wort, über das sie nicht mehr nachdenken muss. Und sie weiß auch, wie die Dinger in der Schatzkiste der Lehrerin heißen: „Schokoladeball.“ Jedes Kind darf sich zwei Kugeln nehmen, während die Kiste rumgeht, singen sie: „Eins und eins ist zwei, was ist schon dabei? Fünf und fünf ist zehn, das kann jeder sehen, zehn mal zehn ist hundert, damit ihr euch nicht wundert.“ Den Text haben alle Schüler drauf.

Marina Kämpfe-Lohmann und Angelika Müller-Preisenhammer haben einen anspruchsvollen Job. Sie sind die einzigen Lehrerinnen der Heumadener Vorbereitungsklasse. „Wir sind den Kindern sehr nah“, sagt Kämpfe-Lohmann. Sie sind weit mehr als Vermittler von ABC und Einmaleins. Es geht um Alltägliches wie den Zahnarztbesuch, aber auch um seelische Nöte. In der Schule fühlen sich die Kinder aufgehoben. „Wir versuchen, die Welt im Unterricht heil zu machen“, sagt Müller-Preisenhammer. „Die Kinder wollen in die Schule kommen und gern auch länger bleiben“, sagt Kämpfe-Lohmann. Die Lehrerinnen bekommen schnell mit, was die Kinder in ihrem Leben schon alles mitmachen mussten. Doch ein Trauma entbindet nicht von der Schulpflicht. Und nach etwa einem Jahr ist die Schonfrist vorbei.

Am Anfang sprechen in der Regel die Bilder

Sind die Kinder neu, sprechen die Lehrerinnen meist mit Bildern. „Die sind unerlässlich“, sagt Kämpfe-Lohmann. Weil die Mädchen und Jungs in aller Regel lernwillig sind, seien bald Fortschritte zu beobachten. „Es geht langsam, aber die Kinder brauchen diese Langsamkeit“, sagt sie. „Es ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft.“

Um der Aufgabe gewachsen zu sein, besuchen die beiden Lehrerinnen Fortbildungen, „und man wächst auch in diese Rolle rein“, sagt Kämpfe-Lohmann. Aber man muss es wollen. Das Staatliche Schulamt bietet für die Lehrer in Vorbereitungsklassen Supervisionen an. „Es passiert ja auch etwas mit einer Lehrerin, wenn sie mit den Schicksalen der Kinder konfrontiert wird“, sagt Matthias Kaiser vom Staatlichen Schulamt.

Andi hat übrigens nicht nur eine braune Schachtel gefaltet, sondern auch eine Blume. „Die ist aber hübsch“, sagt die Lehrerin. Das muss der Junge verstanden haben, denn er grinst übers ganze Gesicht. „Die darfst du mit nach Hause nehmen.“ Seinen Eltern erzählt er dann vielleicht, dass er eine braune Falte geblumt hat.