Unser Fotograf Leif Piechowski war am Stuttgarter Flughafen unterwegs – was er dort durch seinen Sucher entdeckt hat, sehen Sie in der Bildergalerie. Klicken Sie sich durch. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Auf einem Flughafen sind unendlich viele Gefühle unterwegs. Jeden Tag, beinahe jede Minute. Die einen landen, die anderen fliegen – und alle warten irgendwann. Das kann nerven. Passagiere sind schließlich Menschen. Und Menschen irren: Unterwegs mit der Terminalaufsicht auf dem Stuttgarter Flughafen.

Stuttgart - Auf einem Flughafen sind unendlich viele Gefühle unterwegs. Jeden Tag, beinahe jede Minute. Die einen landen, die anderen fliegen – und alle warten irgendwann. Das kann nerven. Passagiere sind schließlich Menschen. Und Menschen irren. Sie vergessen andauernd etwas, sie weinen vor Glück und Schmerz, sie küssen, sie grinsen, fluchen. Manchmal haben sie einen Kreislaufkollaps oder verschlafen eine wichtige Durchsage.

Und mittendrin im tosenden Gefühlsmeer und Fernwehstrom: Markus Grigoleit. Der Fels in der Brandung, ein schlanker, durchtrainierter Mann in schiefergrauer Uniform mit Augen wie zwei kühle Seen, in die man eintauchen möchte, um sich zu erfrischen.

Markus Grigoleit. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Markus Grigoleit arbeitet seit 2010 bei der Terminalaufsicht des Stuttgarter Flughafens und strahlt bei seinen Kontrollgängen durch die Terminals absolute Ruhe aus. Eine wichtige Eigenschaft. An einem normalen Tag werden in Leinfelden-Echterdingen 25 000 Passagiere abgefertigt. Damit liegt der Manfred Rommel Flughafen, wie er seit der Umbenennung im vergangenen Jahr korrekt heißt, beim Passagieraufkommen auf Platz sechs der deutschen Flughäfen. Einen großen Anteil am reibungslosen Passagierfluss hat das 17-köpfige Team der Terminalaufsicht. Es leistet im Notfall Ersthilfe, hat die Dienstaufsicht in den Fluggasthallen, beseitigt alle möglichen und unmöglichen Gefahrenquellen.

„Sehen Sie den Blumenkübel da hinten?“, fragt Markus Grigoleit und deutet auf eine Topfpflanze zwischen der Apotheke und dem Bistro in Terminal zwei. Und während der an Dekorationen interessierte Laie noch sinniert, ob diese kindshohen Blumenkübel (in einem schwierigen Mokkabraun) ästhetisch betrachtet überhaupt zeitgemäß sind, verweist der 36-Jährige auf das Gefahrenpotenzial im Brandfall, wenn die Feuerschutzvorhänge automatisch von der Decke abgelassen und von störenden Gegenständen aufgehalten würden. „Man muss mit allem rechnen“, sagt Markus Grigoleit, konstatiert mit geübtem Blick, dass die Position des Kübels ordnungsgemäß ist und beschleunigt den Schritt, ohne zu rennen, weil ein sprintender Mann in Uniform Panik unter den Reisenden auslösen könnte.

Bald sieht es aus wie Erbsensuppe

Das Ziel: Terminal 4, wo es demnächst zu einer „Massierung“ kommen wird. Wobei Markus Grigoleit nicht etwa eine dieser spontanen und unglaublich entspannenden Thai-Massagen für Aktenkofferträger meint. Ein „massiertes Aufkommen“ oder ein „Peak“ vor den Check-Ins und Sicherheitskontrollen bedeutet im Flughafensprech sinngemäß, dass es zu langen Wartezeiten in den Abfertigungshallen kommt. In Terminal 4 stehen demnächst Hunderte, die nach Rumänien oder in die Türkei fliegen wollen, nach Antalya und Izmir. Die Uhr zeigt 11.20 Uhr. Noch wirkt alles ruhig. „Warten Sie mal ab. In zwei Stunden sieht es hier aus wie Erbsensuppe“, scherzt Markus Grigoleit mit norddeutschem Humor. Er ist gebürtiger Borkumer.

Aber noch ist der Suppenteller leer, um im Bild zu bleiben. Lediglich eine rätselnde Frau mit Gepäckwagen und ihrem darauf turnenden Sohnemann schaut demonstrativ in ihre Unterlagen, sagt aber nichts. „Kann ich Ihnen weiterhelfen“, fragt Markus Grigoleit die offenbar schüchterne Frau mit großem Silberherz auf dem rosa T-Shirt, die um 14.10 Uhr nach Bukarest fliegen soll, aber keinen Schimmer hat, in welchem Terminal sie einchecken muss. Der Mitarbeiter der Flughafen Stuttgart GmbH (FSG) schaut in die verknüllten Papiere. Alles klar. Markus Grigoleit erklärt der Frau auf Englisch, wo genau es weitergeht für sie. „Thank you.“ Ein Lächeln als Dank. Nicht immer sind Reisende so freundlich, viele reagieren unter Stress aggressiv. Markus Grigoleit muss dann Haltung bewahren. Freundlich bleiben. „Ich gehe auf die Leute zu, gerade wenn ich sehe, dass sie unschlüssig wirken. Manche sind eben scheu oder nervös. Ich helfe, wo ich kann. Das ist mein Job.“

Pro Tag 20 Kilometer zurücklegen

Zum Job gehört auch eine gute Kondition. Pro Schicht drehen die Leute von der Terminalaufsicht im Außendienst je drei große Runden, wobei jeder Parcours durch die vier Terminals, von der Ankunftsetage bis hinauf zur Ebene fünf führt. Markus Grigoleit legt pro Runde fünf bis sechs Kilometer zurück, was am Tag mehr als zwanzig Kilometer ausmachen kann. Jetzt versteht man, weshalb einem jemand den Rat gab, man solle zum Termin am besten „weiche Schuhe“ anziehen.

Der Flughafen ist eine Welt in der Welt, ein eigener Kosmos – man könnte hier problemlos Tage überleben. Der britisch-schweizerische Philosoph Alain de Botton hat vor Jahren das Experiment gewagt, verbrachte eine Woche lang auf dem Londoner Flughafen Heathrow und schrieb ein hinreißendes Buch über seine Erfahrungen in der Parallelwelt. Restaurants, Ärzte, ein Andachtsraum: für alles ist gesorgt, in London wie in Stuttgart. Vom Lotsen über den Busfahrer bis zum Flughafenchef verdienen hier 9500 Angestellte und Arbeiter ihr Geld.

Markus Grigoleit kennt anscheinend jeden und alles. Er winkt. Grüßt. Spricht ins Funkgerät. Erkundigt sich. Beantwortet Fragen, schaut nach Gefahren- und Baustellen, prüft Absperrungen, geht ein Dutzend Mal durch die Sicherheitsschleuse. Und läuft und läuft.

Versehentlich den Alarmknopf gedrückt

11.41 Uhr: Sechs junge, recht leicht bekleidete Damen sind gerade aus London- Heathrow gelandet und wissen nicht, ob ihr Gepäck ins kroatische Zadar durchgecheckt worden ist. Ist es.

12.12 Uhr. In einer Behindertentoilette hat jemand versehentlich den Alarmknopf gedrückt.

12.59 Uhr. In Terminal 1 beträgt die Wartezeit vor der Sicherheitskontrolle mittlerweile sieben Minuten, was für jeden deutlich auf der großen Anzeigetafel über der Bordkartenkontrolle zu erkennen ist. Die Warteschlange ist eindeutig zu lang. Eine Gruppe Austauschschülerinnen aus Frankreich heult um die Wette. Abschiedstränen, groß wie Murmeln. Markus Grigoleit macht die Reisenden darauf aufmerksam, dass es in den anderen Hallen schneller vorangeht. Die Leute wollen aber nicht ausweichen, sondern versperren mit ihrem Gepäck lieber den Check-In der Lufthansa.

13.02 Uhr. Markus Grigoleit wird nun bestimmter. „In diesen Situationen muss man etwas strenger werden.“ Die Terminalaufsicht ist gegenüber Passagieren weisungsbefugt. Die Mädchen heulen immer noch.

13.15 Uhr. Terminal 4, eine große Runde später. Die Halle ist „voll wie Erbsensuppe“. Markus Grigoleit hatte Recht. Die Passagiere für die Flüge nach Antalya, Bukarest und Izmir stehen in langen Warteschlangen. An der Sicherheitskontrolle sind zwei Schalter besetzt. Markus Grigoleit bestellt über Funk ein drittes Team.

13.17 Uhr. Drei Schalter sind besetzt. Die Situation entspannt sich. Und weiter geht’s. Ein fester Job bei der Terminalaufsicht ist besser als jede Sommer-Diät. Die Schuhe qualmen, die Flieger fliegen. Im Behinderten-WC geht wieder das Alarmlicht, das dritte Mal schon. Ansonsten: alles in Ordnung.

Von wegen in Ordnung. Bei der zweiten Runde erfährt Markus Grigoleit über Funk, dass in einem Schnellrestaurant ein herrenloser Koffer gesichtet worden ist. Gerade stand man noch vor einem leeren Gate und beobachtete gemeinsam eine große Maschine, den Airbus 330. Knapp 300 Sitzplätze. Toll. Markus Grigoleit machen passagierlose Hallen eher traurig. „Ich mag, wenn es fließt.“

Raus aus dem Restaurant

Doch jetzt stockt der Fluss. Jetzt muss es schnell gehen, vielleicht zu schnell. Terminal 1, Ebene 4. Das Restaurant ist um diese Zeit gut besetzt, die Gäste ahnen noch nichts, beißen in ihre Burger, bestellen fröhlich weiter. Die Bundespolizei ist ebenfalls schon hier, zu viert, auch Grigoleits Kollege Holger Fiedler wartet. Der Schalenkoffer steht in der Nähe der Toiletten, wird von den Mitarbeitern der FSG und den Polizisten umstellt. Die Hundestaffel ist informiert, muss den verdächtigen Gegenstand auf Sprengstoff prüfen. Man wartet noch, vielleicht ist der Kofferbesitzer ja auf der Toilette. Eine Minute kann lang sein. Eine zweite auch.

Zwecklos. Schließlich beginnen die Polizisten und Markus Grigoleit mit der Räumung des Restaurants. Niemand beschwert sich. Die Hälfte der Gäste ist schon auf dem Weg zu den Rolltreppen, da erscheint die Besitzerin des Koffers. Sie und ihre zwei Freunde hätten das Gepäck kurz abgestellt und sich verquatscht. „Manchmal kommt das zehnmal am Tag vor“, sagt Markus Grigoleit. Die Polizei sehen von einer Strafanzeige ab, belehren die junge Frau, eine türkische Staatsbürgerin, die sich keiner Schuld bewusst ist, obwohl es andauernd Durchsagen in allen Abfertigungshallen zum Thema gibt, auf Deutsch und seit kurzem auch auf Türkisch. „Das ist menschlich“, beruhigt Markus Grigoleit. Grüßt und geht. Der Mann hat Nerven.

Alles fließt, fliegt, flieht. So viele Menschen, so viele Pläne und Sehnsüchte, so viele Vorschriften und Sicherheitsvorkehrungen. „In einer Welt voller Chaos und Unregelmäßigkeit scheint mir der Flughafen eine ebenso würdige wie faszinierende Zuflucht von Eleganz und Logik zu sein“, schreibt Alain de Botton nach seiner Woche in Heathrow. Das trifft es schön. Noch schöner als solche Einsichten wäre allerdings nach diesem anstrengenden Wandertag mit der Terminalaufsicht ein kühles Fußbad oder ein Flugticket zu einem einsamen Strand.