Im Stuttgarter Landtag sitzen ausnahmsweise keine Politiker, sondern junge Flüchtlinge an den Pulten Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Ministerpräsident, Koalition, Landtag: Mit Begriffen wie diesen können viele Geflüchtete noch wenig anfangen. Das Projekt „Neuland.Wahl“ soll junge Asylsuchende nun für Demokratie sensibilisieren. Ein Besuch im Landtag.

Stuttgart - Mit einer Mehrheit von sieben Stimmen erklärt der Landtagspräsident Edith Sitzmann zur Ministerpräsidentin. „Nehmen Sie die Wahl an?“, fragt er sie. Die grüne Landtagsabgeordnete schaut fragend zurück. Im Plenarsaal des Interims-Landtags am Stuttgarter Schlossplatz stellen an diesem Tag acht junge Flüchtlinge die Wahl des Ministerpräsidenten nach. Sitzmann alias Anastasija (Nachnamen aus Schutzgründen nicht angegeben) bleibt die Antwort zunächst schuldig.

„Verstehst du das?“, fragt Felix Neumann, der die Gruppe begleitet, „akzeptierst du die Wahl?“ „Akzeptierst du – das ist doch noch viel schwieriger zu verstehen“, meldet sich Landtagspräsident Egzon zu Wort. Der 19-Jährige aus dem Kosovo stellt FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke dar. Von seinem Platz am oberen Pult des Plenarsaals blickt er auf seine Schulfreunde hinab.

Politik-, Sprach-, Geografie- und Landeskundekurs zugleich

Die sechs jungen Frauen und zwei jungen Männer besuchen eine Vorbereitungsklasse für Flüchtlinge an der Gewerblichen Schule in Lahr. Zwei weitere Teilnehmer, einer aus Gambia, der andere aus Syrien, fehlen an diesem Tag. Im Rahmen der Modellinitiative „jmd2start“ nehmen sie an dem Projekt „Neuland.Wahl“ teil, das in Kooperation mit der Initiative „Viel-Stimmig“ der Stadt Lahr durchgeführt wird. „Neuland.Wahl“ soll die zehn jungen Flüchtlinge für Demokratie sensibilisieren und ihnen erklären, was Vokabeln wie „Landtag“, „Koalition“, „Ausschuss“ und „Ministerpräsident“ bedeuten. So ist das Projekt Politik-, Sprach-, Geografie- und Landeskundekurs zugleich.

„Ziel ist es, die Teilnehmer auf die U18-Wahl vorzubereiten“, sagt Felix Neumann. Der Politologe und Sozialpädagoge arbeitet für die Modellinitiative „jmd2start“. An 24 Modellstandorten bundesweit beraten, bilden und begleiten deren Mitarbeiter in Anbindung an bestehende Jugendmigrationsdienste (JMD) Asylsuchende zwischen zwölf und 27 Jahren, die entweder eine Duldung haben oder sich im Asylverfahren befinden. Für sie leitet Neumann seit 2. Februar das Projekt „Neuland.Wahl“ in Lahr.

„Zu verstehen, wie unser Land funktioniert, ist grundlegend“

„Ein Projekt wie das unsere funktioniert am besten, wenn zeitgleich ein passendes Ereignis stattfindet“, sagt Neumann. Die Landtagswahl, sagt er, sei derzeit Thema Nummer eins in Baden-Württemberg. „Die Wahl ist allgegenwärtig: Auf den Straßen hängen Wahlplakate, im Fernsehen werden Debatten gezeigt.“ Für Neuankömmlinge sei es wichtig zu verstehen, was hier gerade passiere und warum: „Zu verstehen, wie unser Land funktioniert, ist grundlegend, wenn man hier leben möchte.“ In den sechs Projektwochen sollen die Jugendlichen nun möglichst viel Entscheidungskompetenz erlangen: „Sie sollen herausfinden, welche Partei sie wählen würden, wenn sie an der Landtagswahl teilnehmen dürften.“

Bis das soweit ist, kann es allerdings noch dauern. „Um abstimmen zu dürfen, müsstet ihr älter als 18 Jahre und deutsche Staatsbürger sein“, sagt Ingrid Kriesten vom Besucherdienst im Eingangsbereich des Interims-Landtags. „Und ihr müsstet länger als drei Monate in Baden-Württemberg wohnen.“ Kriesten steht vor einer Reihe von Schautafeln, die sie nacheinander erklärt. Sie weist die Jugendlichen darauf hin, dass der Südwesten in 70 Wahlkreise aufgeteilt ist, dass deren Größe sich nach der Bevölkerungsdichte richtet und dass die Landeshauptstadt Stuttgart deshalb in vier Wahlkreise gegliedert ist.

„Die Angst ist zu groß, wieder abgeschoben zu werden“

Danach geht es weiter in den Plenarsaal. Ihn hatte sich Dhecra größer vorgestellt. „Er ist ehrlich gesagt ein wenig klein“, sagt die 18-Jährige. Ihre Eltern kommen aus Tunesien, sind aber vor ihrer Geburt nach Italien emigriert. Seit einem Jahr lebt die Familie in Deutschland. An dem Landtagswahlprojekt nimmt Dhecra teil, um mehr über ihre neue Heimat zu erfahren. „Ich wohne hier“, sagt sie. „Also will ich wissen, wie das politische System in Deutschland funktioniert.“

Über das Thema Flucht und Flüchtlinge würde Egzon sich gerne mit den Politikern unterhalten, die heute nicht anwesend sind im Landtag. Egzon wurde 1996 in Mülheim an der Ruhr geboren. Als er neun Jahre alt war, wurde die Familie ins Kosovo abgeschoben. Vor einem Jahr kam sie zurück nach Deutschland. Nun holt Egzon in Lahr seinen Hauptschulabschluss nach. Anschließend will er eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvieren. Warum er nicht zur Realschule gehen möchte, warum nicht ins Gymnasium? „Die Angst ist zu groß, wieder abgeschoben zu werden“, sagt der 19-Jährige. Mit seinen Eltern, dem Bruder und der Schwester wohnt er momentan in einer Sammelunterkunft, in einem alten Militärgebäude auf dem Lahrer Flugplatz. Rund 150 Flüchtlinge leben auf dem Gelände, zwei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt.

„In meiner Heimat suchen Tag für Tag Kinder in Containern nach Essen“, erzählt er. „Sagen Sie mir:Würden Sie nicht auch fliehen, wenn das Ihre Kinder wären?“ Am 4. März wird Egzon einige Politiker mit dieser Frage konfrontieren können. Dann werden sich die Projektteilnehmer mit den Landtagskandidaten Sandra Boser (Grüne), Karl-Rainer Kopf (SPD) und Marion Gentges (CDU) treffen und ihnen ihre Fragen stellen.