Ein Flüchtlingskind wird in Sizilien an Land gebracht. Es ist froh, in Italien zu sein. Viele junge Italiener verlasen ihre Heimat, weil sie für sich keine Perspektive sehen. Foto: AP

In Italien steigt nicht nur die Zahl der Einwanderer. Es wandert auch eine Rekordzahl von Italienern aus.

Rom - Giulio ist Italiener. Zum Studieren ist er nach Schweden ausgewandert; er promoviert zur Zeit in Angewandter Physik an der Uni Stockholm, und weil es sich um ein Duales Studium handelt und er nebenbei in einem Industriebetrieb arbeitet, verdient er 2500 Euro im Monat. Giulio will in Schweden bleiben. „In Italien bekäme ich höchstens die Hälfte dieses Lohns. Aber für einen wie mich gibt’s dort sowieso keinen Job”, sagt er.

Faruq ist Sudanese, vor 13 Jahren kam er über Lampedusa nach Italien. Er hat einen Job in Rom gefunden. Er verkauft Blumen – für 130 Euro im Monat. Er hat einen regulären Arbeitsvertrag, lautend auf vier Stunden pro Tag. Faktisch muss Faruq zwölf Stunden am Tag arbeiten, sieben Tage pro Woche. Eine Wohnung hat der 38jährige nicht, nur einen Schlafplatz. Als er kürzlich zum Heiraten nach Hause fuhr und genug hatte von Italien, zwang ihn die Familie, nach Rom zurückzufliegen. „Die haben mir gesagt: Du schickst uns so viel Geld, darauf können wir nicht verzichten“, sagt er.

Rekordzahlen der Einwanderer

Gelobtes Land – verfluchtes Land. Kaum irgendwo liegt das so nahe beieinander wie in Italien. Der Blick auf die aktuellen Rekordzahlen der Einwanderer – allein 119 000 „Bootsflüchtlinge“ leben derzeit in staatlichen Einrichtungen – verdeckt einen anderen Spitzenwert: 2015 sind 107 529 Italiener ausgewandert. Als Wirtschaftsmigranten, genauso wie ein beträchtlicher Teil der Ankömmlinge aus Afrika.

In der Masse sind Ein- und Auswanderer die gleichen Leute: 20 bis 30 Jahre alt, auf der Flucht aus einem Zuhause, das keine Lebensperspektive bereithält. Nur dass „Wirtschaftsmigration” innerhalb der EU unter „Freizügigkeit“ verbucht wird. Junge Italiener streben bevorzugt nach Deutschland (16 569 im vergangenen Jahr) und nach Großbritannien (16 500); es folgen Frankreich und die Schweiz. In den vergangenen zehn Jahren sind der Krise wegen insgesamt 817 000 Italiener ausgewandert; die Kurve steigt stetig weiter. Und es gehen diesmal – sehr ähnlich wie im Fall der nach Europa strebenden Afrikaner – die „besseren“ Leute. Die größten Auswanderungsregionen Italiens sind seltsamerweise auch die reichsten, die mit den besten Schulen und den meisten Arbeitsplätzen: die Lombardei und Venetien (zusammen 30 374 Emigranten); erst an dritter Stelle (9823) folgt das zu “Gastarbeiter”-Zeiten so ausgeblutete Sizilien. Der Rest des Mezzogiorno zieht die Binnenwanderung vor und sucht sein Glück „nur“ im Norden des eigenen Landes.

Grund für den Wegzug

Grund für den Wegzug ist natürlich die Arbeitslosigkeit. In Italien liegt sie trotz leichter Besserung aktuell bei 11,4 Prozent, in Deutschland bei 6,3 Prozent. Noch gewaltiger ist der Unterschied bei der Rate der jungen Arbeitslosen: 36,9 Prozent beträgt sie in Italien. In Deutschland sind es ganze sieben Prozent. Und der Mezzogiorno steht in Italien noch viel schlechter da als die nationalen, vom Norden „geschönten“ Zahlen das erkennen lassen. Noch schlimmer sind die Zuwanderer dran. Liegen Italiens Löhne von Haus aus ein Viertel bis ein Drittel unter den deutschen, so verdienen „reguläre“ Ausländer auf einem gleichwertigen Arbeitsplatz noch einmal um 362 Euro monatlich weniger als Italiener. In der Land- und der Bauwirtschaft sind – vor allem im Mezzogiorno – Zustände verbreitet, die zumindest Ausbeutung darstellen, manchmal gar an Sklaverei denken lassen.

Vorwiegend Schwarzafrikaner ernten in Kalabrien die Orangen, in Apulien die Tomaten; zu hunderten hausen sie in Bauernhof-Ruinen oder in genauso abbruchreifen Zeltstädten des Zivilschutzes mit geringen oder nicht vorhandenen hygienischen Standards; „Arbeitsvermittler“ streichen einen Teil des kärglichen Lohns von rund 25 Euro am Tag für sich ein. Immer wieder kommt es zu Revolten.

Integration der Zuwanderer

Die Integration der Zuwanderer ist nicht vorgesehen. „Man schaut immer nur auf die Ankünfte, kümmert sich aber nicht um die Folgen“, sagt Pater Camillo Ripamonti, der in Rom das Flüchtlingshilfswerk der Jesuiten leitet. Jährlich kommen bei ihm 21 000 gestrandete Zuwanderer vorbei – zum Essen, zur Suche nach einem Arbeitsplatz, oder um sich eine fiktive Wohnadresse ausstellen zu lassen, damit sie wenigstens ihre Aufenthalts-Titel erneuern können. Die Stadt Rom hält schon auch Wohnungen vor, insbesondere für die Erstunterbringung von aus dem Meer Geretteten. Danach werden diese Leute sich selbst überlassen. Doch wie halten sie sich an Land über Wasser? „Mit Gelegenheitsjobs die meisten, mal regulär, mal schwarz“, sagt Ripamonti. „Mit Arbeiten, die Italiener nicht machen wollen.“