Die Hemidis, die in Wirklichkeit anders heißen, wohnen in zwei Zimmern im Rohrer Flüchtlingsheim. Foto: Rüdiger Ott

Eine syrische Familie erzählt von ihrer Flucht nach Deutschland. Zu Besuch im Flüchtlingswohnheim Rohr, dem derzeit größten in Stuttgart.

Rohr - Vor einem Jahr begann die Stadt, Flüchtlinge in einem ehemaligen Schwesternwohnheim in Rohr einzuquartieren. Der Bau eines weiteren Heims in Möhringen ist beschlossen. Die Entwicklung wird dabei nicht halt machen. Fünf Geschichten stehen stellvertretend für das vergangene Jahr und die nahe Zukunft und erzählen von Spannungen wie Solidarität gleichermaßen. Diesesmal: Eine syrische Familie, die vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen ist.

Teil 1: Im Gespräch mit Sozialarbeitern des Rohrer Flüchtlingswohnheims. Teil 2: Eine syrische Familie flüchtet vor den Schlächtern der ISIS. Teil 3: Lärmgeplagte Anwohner fahren in Urlaub, um einmal durchschlafen zu können. Teil 4: Ein Marokkaner will eine Ausbildung in einer Schlosserei beginnen, darf aber nicht. Teil 5: Die Stadt Versucht, sich für die Zukunft zu wappnen.

Das neue Leben begann am Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Schleuser setzten sie dort ab, Adil und Delal Hemidi mitsamt der kleinen Narin. Die Hemidis sprachen kein Deutsch, und so verloren wie sie aussahen, dauerte es nicht lange, bis zwei Polizisten sie ansprachen.

Für diesen Moment hatten sie sich einige Worte zurechtgelegt. „Flüchtling“ sagten sie und „Syrien“ und hoben ihre Ausweise vor sich. Ein knappes Jahr ist das her. Die Familie ist inzwischen gewachsen. Delal war schwanger, als sie vor dem Krieg floh.

An den Wänden pappen Spickzettel mit Vokabeln

Zwei Zimmer im Rohrer Flüchtlingswohnheim an der Arthurstraße sind ihr neues Zuhause. Sie kocht eine Kanne arabischen Kaffee in einer Nische neben der Tür, er kramt aus einer Kommode Kekse hervor. Das Wohnzimmer besteht aus einem Sammelsurium an Möbelstücken, ein abgewetztes Sofa, ein Beistelltisch, aufeinander gestapelte Schränkchen, ein alter Röhrenfernseher. Überall pappen Spickzettel mit Vokabeln. Auf der Tür steht Tür, auf der Schublade Schublade. Die beiden besuchen Deutschkurse, und inzwischen können sie sich ganz gut verständigen.

In Wirklichkeit heißen die Hemidis anders. Ihre Namen sollen besser nicht in der Zeitung stehen, meint er. Wer weiß, was das für Auswirkungen haben könnte. Sie fühlt sich sicherer, was soll schon passieren. Schließlich einigen sie sich auf ein Foto, das der Gast schießen darf. „Deutschland sehr schön“, sagt Adil. „Perfekt für Familie.“

Über den Bildschirm flimmern Nachrichten aus ihrer Heimat. Frauen mit Gewehren durchsuchen ein Haus, Männer tragen leblose Körper über ihren Köpfen, ein Kommandeur spricht in ein Mikrofon. „Das ist meine Stadt“, sagt Delal. „Das ist jetzt.“

Die Granate hätte auch in ihrem Haus einschlagen können

Auf einer Karte tippt sie mit dem Finger auf einen Punkt rechts oben, nahe der türkischen Grenze und gleich neben dem Irak. Kurdengebiet. „Jeden Tag viele Leute tot, 20 tot, 30 tot“, sagt Adil. Die Kämpfer der ISIS hinterlassen ein Blutbad, selbst Kinder sind vor ihnen nicht sicher.

Der Tod ist alltäglich geworden in Syrien. Die beiden erzählen von einer Nachbarsfamilie, deren Haus von einer Granate getroffen wurde. Sie schlug in einem leeren Zimmer ein und sprengte Wand und Decke weg. Nebenan frühstückte die Familie, und wie durch ein Wunder überlebten alle. Wer die Granate abgefeuert hatte, Regierungstruppen, Aufständische, Radikalislamisten, niemand wusste es. Sie hätte auch bei den Hemidis einschlagen können.

Sie erzählen davon, dass es kaum zu essen gab. Der Strom war abgestellt, im Winter froren sie. Nachts flackerte der Himmel, wenn irgendwo Bomben fielen. „Immer Angst“, sagt sie, „das ist auch Krieg.“

Für die Flucht kratzten sie das Ersparte zusammen. Er war in der Türkei, um alles vorzubereiten. Eines nachts lief sie zu Fuß durchs Niemandsland, vorbei am Kontrollposten, schwanger und mit einem Kind auf dem Arm. Drüben wartete ein Auto und brachte die Familie zur griechischen Grenze. Inzwischen waren sie 16 Leute und setzten mit zwei Schlauchbooten über den Grenzfluss.

Als nächstes will die Familie eine eigene Wohnung finden

Nachts campierten sie in einem Wald, die Kinder bekamen Schlafmittel, damit sie nicht schrien. Die zwei Autos, die die Gruppe nach Athen brachte, waren so überfüllt, das sich jeweils zwei Flüchtlinge in den Kofferraum quetschen mussten. „Eine Woche bleiben wir Athen, dann fliegen nach Italien, dann mit Auto nach Deutschland“, sagt sie. „Dann fertig.“

Ihr Asylantrag ging problemlos durch. Adil würde gerne arbeiten, vielleicht wieder in einem Gemüseladen, aber vorher will er besser Deutsch lernen. Doch als erstes wollen sie aus dem Rohrer Heim ausziehen. „Ich suche eine Wohnung, aber Wohnung sehr schwer“, sagt er. Die einen lehnen ihn ab, weil er Kinder hat, andere weil er keine Arbeit hat, und wieder andere, weil er Flüchtling ist. Aber das wird schon werden, ist er sich sicher. Sie werden bleiben. Seine Zukunft, die seiner Frau und seiner Kinder sieht er in Deutschland. „Ich hoffe, meine zwei Töchter Arzt machen“, sagt er.