Flüchtlinge in Stuttgart mit ihren gesamten Habseligkeiten Foto: Leif Piechowski

Mit interaktiver Grafik - Rund ein Drittel der Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg einen Asylantrag stellen, müssten das eigentlich in einem anderen europäischen Land tun. Die Bundespolizei hat allein im Juli 1000 illegal Eingereiste aufgegriffen. Profiteure sind Schleuser.

Stuttgart - Die Stuttgarter Feuerwehr ist am vergangenen Freitag zu einem ungewöhnlichen Einsatz gerufen worden. Gefragt waren nicht Brandbekämpfung und Wasserstrahl, sondern Verpflegung, Kissen und Decken. Am Stuttgarter Hauptbahnhof warteten bereits 58 Menschen darauf. Gezeichnet von einer langen, kräftezehrenden Reise, die sie schließlich in die Landeshauptstadt geführt hat. Flüchtlinge aus Syrien, Palästina und Eritrea, darunter fünf Jugendliche und 21 Kinder.

Beamte der Bundespolizei sind in einem Zug von München nach Essen auf die Leute gestoßen, die keine Aufenthaltsgenehmigungen hatten. Die meisten von ihnen dürften sich aus Italien nach Baden-Württemberg durchgeschlagen haben. Manche wollten hierher, andere weiter, etwa nach Schweden. 58 sind viele, aber kein Vergleich zu den 146, die vor kurzem in einer Bahn von Verona nach München gefunden worden sind. Ein halber Zug. Mutmaßlich von Schleusern in die Waggons gesetzt.

Die Bundespolizei greift derzeit praktisch täglich überall im Land Flüchtlinge auf, die aus anderen EU-Ländern kommen, obwohl sie eigentlich dort ihren Erstantrag stellen müssten. Ihre Identität wird festgestellt, dann werden sie nach Karlsruhe in die Erstaufnahmestelle des Landes geschickt, um in Baden-Württemberg Asyl zu beantragen. Die Zahlen der sogenannten irregulären Migration nehmen ständig zu. Allein im Juli hat die Bundespolizei im Land 1000 Flüchtlinge aufgegriffen, viele davon am Stuttgarter Hauptbahnhof.

Seit Jahresbeginn bis Ende Juli sind es damit 4200 Menschen gewesen. Eine enorme Zahl, wenn man bedenkt, dass bis zu diesem Zeitpunkt gut 11 000 Erstanträge im Land gestellt worden sind. Auch angesichts einer unklaren Dunkelziffer kann man davon ausgehen, dass mindestens ein Drittel der Asylbewerber in Baden-Württemberg illegal ins Land gekommen sind. Städte und Gemeinden ringen um dringend notwendige Unterkunftsplätze für die Neuankömmlinge.

Ob sie tatsächlich bleiben dürfen, entscheidet nicht nur die Situation in ihrem Herkunftsland. Sondern auch, ob man ihnen nachweisen kann, dass sie bereits in ein anderes EU-Land eingereist waren, dort einen Antrag gestellt haben oder ihn hätten stellen müssen. Dann werden sie zurückverwiesen.

Diese sogenannten Dublin-Fälle sind zahlreich. „Sie werden in Baden-Württemberg nicht gesondert erfasst“, sagt Andreas Schanz, Sprecher des Innenministeriums. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe aber mitgeteilt, „dass bundesweit im ersten Halbjahr 15 409 von insgesamt 77 109 Asylanträgen Dublin-Fälle waren, also 20 Prozent“. Tatsächlich zurückverwiesen werden nur wenige. Nach Griechenland zurzeit wegen der humanitären Bedingungen gar nicht. „Die Zahl der Übernahmeersuch lässt auch keinen Rückschluss auf illegale Migration nach Deutschland zu, da die Ersuchen nur gestellt werden können, wenn der Asylantragsteller nachweislich über einen bestimmten anderen Mitgliedstaat eingereist ist“, sagt ein BAMF-Sprecher. Das gelingt nur in einem Teil der Fälle.

Derzeit kommen die meisten illegal Eingereisten aus Italien. Betroffene berichten von teilweise schlimmen Verhältnissen dort. Und geben ihre letzten Habseligkeiten dafür her, nach Deutschland zu reisen. 23 Schleuser hat die Bundespolizei allein im Juli im Land festgenommen, 89 sind es seit Jahresbeginn bis zu diesem Zeitpunkt. „Das Thema Flüchtlinge beschäftigt uns derzeit sehr“, sagt eine Sprecherin der Bundespolizeidirektion Stuttgart, die für Baden-Württemberg zuständig ist. Die Kontrollen sind bereits im Frühjahr erhöht worden.

Die Ermittler werden schon bald wieder fündig werden. Und die Stuttgarter Feuerwehr kann sich schon mal auf weitere humanitäre Einsätze im Hauptbahnhof einstellen.

Hintergrund: Dublin-Verfahren

Das nach der irischen Hauptstadt benannte Dublin-Verfahren legt fest, welcher europäische Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Die Verordnung gilt nicht nur in der EU, sondern auch in Norwegen, Island, der Schweiz und in Liechtenstein. Grundsätzlich müssen Flüchtlinge in dem Staat, in dem sie ankommen, auch ihren Erstantrag stellen. Viele tun das aber nicht und versuchen weiterzureisen – oder sie versuchen, in mehreren Ländern Anträge zu stellen.

Das Dublin-Verfahren soll „sicherstellen, dass jeder Asylantrag, der in den angeschlossenen Ländern gestellt wird, inhaltlich geprüft wird – und zwar jeweils nur von einem Land“, sagt ein Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das in Deutschland die Prüfung übernimmt. Das Amt kontrolliert deshalb vor einer inhaltlichen Prüfung grundsätzlich, welches Land zuständig ist. Wird festgestellt, dass es sich um ein anderes europäisches Land handelt, spricht man von einem Dublin-Fall.

In diesen Fällen wird ein Übernahme- ersuchen erstellt. Das jeweils andere Land muss dem allerdings zustimmen. Der gesamte Vorgang muss binnen sechs Monaten abgeschlossen sein.

Deutschland gehört wie etwa Schweden zu den Ländern, die eine Vielzahl von Übernahmeersuchen stellen, weil viele Flüchtlinge lieber hierherkommen wollen als in andere europäische Staaten. 2013 hat Deutschland gut 35 000 Übernahmeersuchen gestellt – das waren 32 Prozent aller Asylanträge. 22 000 wurde zugestimmt, nur 4700 tatsächlich überstellt. In lediglich 4300 Fällen wollten andere Länder Asylverfahren an Deutschland abtreten. (jbo)