Gemeinsam im Einsatz in Basel: Beamte der Bundespolizei und der Schweizer Grenzwacht haben ihre ganz eigene Sicht auf die Flüchtlingswelle in Europa Foto: Bock

„Manchem Politiker würde es guttun, hier mal eine Schicht mitzumachen“, meinte ein Grenzpolizist aus dem Dreiländereck zum Thema Flüchtlinge. StN-Reporter Jürgen Bock kann da mitreden. Er hat eine Abendschicht bei dem gemischten deutsch-schweizerischen Grenzpolizei-Team mitgemacht.

Basel/Weil am Rhein - Es ist Freitagabend im Badischen Bahnhof in Basel. Berufsverkehr. Menschen mit Aktentaschen hetzen zu den Zügen, die über die nur wenige Kilometer entfernte deutsche Grenze fahren. Familien brechen in die Ferien auf, die Guggenmusikgruppe Ohregribler trifft sich bester Laune in voller Montur, um in ein langes Faschingswochenende zu starten. Und mittendrin, in einem nüchternen Büro, sitzen Menschen in Uniform beieinander und besprechen den weiteren Verlauf des Abends in einer Mischung aus südbadischem Dialekt und Schweizerdeutsch.

Seit einiger Zeit kontrollieren hier Beamte der deutschen Bundespolizei und der schweizerischen Grenzwache zusammen Straßen und Züge. „Gemeinsame Operative Dienstgruppe“ heißt das im Fachjargon. „Im März feiern wir Zweijähriges“, sagt Fabian T. und lacht. Er ist Leiter der sechs Schweizer Beamten, die sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet haben. Werner S., Chef der sechs deutschen Kollegen, erklärt die Gründe dafür: „Früher hat es nur sporadisch gemeinsame Aktionen gegeben, man kannte sich kaum. Jetzt sind die Wege viel kürzer.“ Die Mannschaft funktioniert seit dem ersten Tag. Die Chancen stehen gut, dass die Gruppe zur Dauereinrichtung wird.

Die Polizisten sollen eigentlich im Großraum zwischen Basel und Freiburg Drogenschmuggel verhindern, Einbrecherbanden stoppen, Waffen beschlagnahmen oder reisende Trickdiebe auffliegen lassen. Doch der Schwerpunkt der Arbeit verschiebt sich immer mehr. Seit die Flüchtlingsströme anschwellen, sind massenhaft Asylsuchende in Europa unterwegs. Oft überschreiten sie ohne Papiere illegal die Grenzen. Gerade hier, im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz, geschieht das jeden Monat hundertfach. Die Erstaufnahmestellen des Landes Baden-Württemberg sind ebenso wie die Kommunen mit der Unterbringung der Menschen überfordert.

In der Halle des Badischen Bahnhofs macht ein junger Mann aus Guinea auf sich aufmerksam. Vielleicht hat ihn der Name der Station verwirrt, jedenfalls will er nach Deutschland. Als er hört, dass er sich noch in der Schweiz befindet und hier Asyl beantragen muss, wirkt er ungläubig, dann widerwillig. Das war nicht sein Ziel. Ein Routinefall für die Beamten.

„Die Flüchtlingsthematik ist ein Massenproblem“, sagt Fabian T. Dabei sei der eigentliche politische Asylgrund bei vielen gar nicht mehr vorhanden. „Es geht schlicht darum, dass die Leute ein besseres Leben für sich suchen.“ Die Flüchtlinge seien dabei gut vernetzt, kennen ihre Rechte und wüssten genau, wohin sie wollen. „Den Leuten ist klar, sie werden nicht abgeschoben, kommen nicht in Haft und erhalten medizinische Hilfe“, sagt der Mann von der Grenzwache und bricht gemeinsam mit seinem deutschen und einem weiteren Schweizer Kollegen auf, um Züge zu kontrollieren. Der ICE aus Zürich Richtung Hamburg ist rappelvoll um diese Uhrzeit. Eine halbe Stunde Zeit bleibt den Beamten auf der Fahrt bis Freiburg, um stichprobenhaft die Insassen zu überprüfen. „Jeder Streifenbeamte achtet auf andere Dinge“, erzählt Werner S. Generell schaue man danach, wer nicht so recht in den jeweiligen Zug passe. Im Berufsverkehr können das Menschen sein, die nicht so aussehen, als ob sie von der Arbeit kommen.

Oder die eine Trommel dabeihaben. Doch die Dokumente des jungen Mannes aus Afrika sind in Ordnung. Er ist zum Musikmachen unterwegs und lebt in der Schweiz. „Merci“, sagt Fabian T. und gibt den Ausweis zurück. Die Beamten klopfen die Leute in den Dateien beider Länder ab, prüfen die Ausweisdaten telefonisch oder mit einem Lesegerät. Im Zug kontrollieren sie Gepäckstücke, Mülleimer und Toiletten. Drogen könnten da versteckt sein oder neuerdings, seit der Aufwertung des Franken, vermehrt Fleisch und Klamotten, die aus Deutschland in die Schweiz mitgenommen werden.

Die Zugreisenden reagieren unterschiedlich, wenn die bewaffneten Männer in Uniform durch die Gänge gehen. Die einen schauen demonstrativ weg, andere lugen verstohlen über ihre Zeitung. Angenehm ist kaum einem die Anwesenheit der Beamten. „Haben Sie Fleisch dabei?“, fragen die Polizisten im Zug zurück Richtung Basel eine Frau. „Nein, ich bin Vegetarierin“, antwortet sie und lacht. Eine blonde junge Dame aus Russland dagegen knurrt bei der Ausweiskontrolle: „Dafür wird man auch nicht alle Tage geweckt.“ Der halbe Großraumwagen dreht sich um und spitzt die Ohren.

Fast täglich stößt die Dienstgruppe auf Flüchtlinge, die laut Dublin-Abkommen eigentlich in einem anderen Land einen Asylantrag stellen müssten – zumeist in Italien. „Das Abkommen könnte funktionieren, wenn sich alle Staaten daran halten würden“, sagt Fabian T. Doch viele Flüchtlinge würden einfach weitergeschickt. „Man könnte das in den Griff bekommen, die Leute besser verteilen und die Schleuserbanden zerschlagen“, pflichtet ihm Kollege Werner S. bei. Doch dieses Problem müsse „die große Politik lösen“.

Eine Antwort auf politischer Ebene liegt jedoch in weiter Ferne. Zwar heißt es im Bundesinnenministerium, mit Italien würden Gespräche geführt. Allerdings scheint bisher niemand zu wissen, wie man die enormen Flüchtlingsströme so ordnen kann, dass die Menschen halbwegs gerecht über die Länder Europas verteilt werden können. Das Dublin-Abkommen jedenfalls erweist sich als zahnloser Tiger. Viele Flüchtlinge bleiben nicht in dem EU-Land, in dem sie eigentlich Asyl beantragen müssten, und werden später auch nicht dorthin zurückgeschickt. Stattdessen gehen sie skrupellosen Schleusern ins Netz, die sie für ihr letztes Geld auf eine Odyssee durch halb Europa schicken. Oft endet der Weg in Deutschland. Von den 25 673 Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg gezählt worden sind, haben offiziell 8900 die Grenze illegal überquert. Die Dunkelziffer ist hoch.

Den Polizeibehörden bleibt deshalb vorerst nur, verstärkt zu kontrollieren, um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. 138 Schleuser hat die Bundespolizei allein in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr festgenommen. Allerdings erwische man oft nur die kleinen Fische, sagt Werner S.: „Das sind riesige Organisationen. Die Köpfe sitzen anderswo, die kriegt man nicht. Und wenn man doch einmal einen ertappt, behauptet er halt, er habe die Flüchtlinge zufällig getroffen und nur helfen wollen.“

In einigen Regionen versucht die Polizei mittlerweile, die Flüchtlinge schon aufzugreifen, bevor sie einen EU-Staat in Richtung eines anderen verlassen können. Seit November kontrollieren trilaterale Streifen mit Beamten aus Deutschland, Italien und Österreich die meisten Züge aus Italien noch vor dem Brenner. „Nach einer vorläufigen Bewertung können wir die Streifen als erfolgreich bezeichnen“, sagt eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums. Man verzeichne zahlreiche Aufgriffe, die meisten davon noch auf italienischem Hoheitsgebiet. Die Flüchtlinge müssen dann aussteigen, bevor sie den Stiefel in Richtung Norden verlassen können.

Die große Masse freilich kann das nicht aufhalten. „Da sind ganze Dörfer in Bewegung“, sagt Fabian T. und schaut im ICE in einem Mülleimer nach Drogen. Wenn Mitglieder der eigenen Familie bereits in Schweden seien, wollten die Verwandten nicht nach Italien, wo sie oft mit Booten ankommen – im Fall, dass sie nicht vorher ertrinken. Die Überlebenden machen sich dann auf die illegale Reise durch Europa. Bis der Weg irgendwo endet.

An diesem Abend verläuft die Reise der Grenzbeamten ruhig. Mit Ausnahme der Schaukelei, wenn sich die Züge in eine Kurve lehnen. „An einem normalen Tag machen wir 8000 Schritte“, sagt einer der Männer und lacht. Er hat spaßeshalber mal einen Schrittzähler getragen. „Suchen Sie jemanden?“, fragt ein Jugendlicher verunsichert und schildert brav seine gesamte Reiseroute. Unverdächtig.

Doch nur zwei Tage später holen die Polizisten drei Gambier aus einem ICE. 19 junge Männer werden allein an diesem Wochenende im Grenzbereich aufgegriffen oder melden sich von allein bei den Beamten, um Asyl zu erbitten. „Wir haben volles Haus“, sagt Bundespolizeisprecher Helmut Mutter. Im Januar sind 700 Menschen bei der unerlaubten Einreise nach Baden-Württemberg aufgegriffen worden – 190 davon allein im Dreiländereck bei Weil am Rhein. Derzeit sind es vor allem Menschen aus Gambia und dem Kosovo. Die Zahlen steigen dramatisch.

Und damit auch die Bürokratie. Wer erwischt wird, kommt meist ohne Pass oder sonstige Dokumente. Das gilt als Straftat. Die Polizisten holen die Menschen aus dem Zug, nehmen Fingerabdrücke, belehren die Flüchtlinge. „Sie werden mit einem Baden-Württemberg-Ticket zur Erstaufnahmeeinrichtung nach Karlsruhe geschickt“, sagt Werner S. Ob der Job angesichts der derzeitigen Situation frustriert? „Das darf man nicht zulassen“, sagt der Polizist.

Die Lage der Betroffenen lässt auch die routinierten Beamten nicht kalt. „Wir haben unseren Auftrag, es geht aber auch um Leute, die viel auf sich nehmen und ein schweres Schicksal haben“, sagt Fabian T. Sein deutscher Kollege ergänzt: „Wir befinden uns in einer weltpolitischen Lage mit zahllosen Kriegen und Problemen. Wenn wir davon betroffen wären, würden wir es genauso machen wie diese Leute.“ Man könne nichts anderes tun, als die Ertappten wie Menschen zu behandeln. „Manche erzählen uns ihre ganze Geschichte“, sagt Werner S.

So wie der Mann aus der Bahnhofshalle. Acht Monate lang hat der sich in Italien über Wasser gehalten. Jetzt will er zu seinem Bruder nach Deutschland. Einen Asylantrag in der Schweiz will er deshalb nicht stellen – und muss die Schengen-Zone darum jetzt binnen sieben Tagen verlassen. Oder besser gesagt: müsste. Denn freiwillig geht keiner zurück in die Heimat.

Es ist Nacht geworden in Basel. Für die Grenzpolizisten geht eine lange Schicht zu Ende. „Merci“, sagt Fabian T. und gibt einem jungen Mann seinen Ausweis zurück. Deutsche und Schweizer machen Feierabend.

Am nächsten Tag geht der Wettlauf mit Flüchtlingen, Schleusern und kriminellen Banden von vorne los. Ein Wettlauf, der zwar Etappenerfolge bringt, aber insgesamt nicht zu gewinnen ist. „Manchem Politiker“, sagt Fabian T., „würde es guttun, hier mal eine Schicht mitzumachen.“