Khaled Shamsi misst den Blutdruck von Jamal Aldieen. Sowohl der Arzt als auch der Patient stammen aus Syrien – und treffen sich auf einem Parkplatz Foto: Lichtgut/Horst Rudel

Die vielen Flüchtlinge bringen manche Arztpraxen an den Rand ihrer Möglichkeiten. Immer häufiger kommen deswegen die Ärzte zu den Unterkünften. Im Landkreis Esslingen ist der syrische Mediziner Khaled Shamsi mit einer mobilen Praxis im Einsatz.

Ostfildern/Stuttgart - „Blumenhalle“ steht in großen Lettern an der Glaswand. Bunt und sommerlich allerdings ist nichts an diesem grauen Tag im Scharnhauser Park. Es schüttet wie aus Kübeln, auf dem holprigen Parkplatz steht das Wasser. Früher einmal, zur Landesgartenschau 2002, waren in der Halle in Ostfilderns Stadtteil tatsächlich Blumen untergebracht. Heute blüht dort vorwiegend die Tristesse. 150 Flüchtlinge schlagen in der Notunterkunft die Zeit tot. Männer aus Syrien, Afghanistan, Gambia, Ghana und anderen Ländern warten auf den Fortgang ihres Asylverfahrens.

Oder auf den Arzt. Denn plötzlich biegt ein ungewöhnliches Fahrzeug ein und hält vor dem Eingang. Khaled Shamsi und Julian Lutz klettern aus dem Auto, das an einen Rettungswagen erinnert. Es ist aber mehr – der Arzt aus Syrien und der Rettungshelfer bilden an diesem Tag die Besatzung der ersten mobilen Arztpraxis im Landkreis Esslingen. 115 000 Euro hat sich das Landratsamt das Fahrzeug kosten lassen. Der Malteser Hilfsdienst stellt die Mannschaft. „Wir haben sogar EKG- und Ultraschallgeräte an Bord“, sagt Shamsi stolz, während Lutz den Strom anschließt.

Draußen warten schon die ersten Patienten. Jamal Aldieen klettert in den Wagen. Der Syrer trägt ein Hemd, zwei Pullover und eine Jacke gegen die Kälte draußen. Er klagt über ein entzündetes Auge. Lutz lässt sich für die Erfassung den Ausweis geben, Shamsi hört sich die Patientengeschichte an und übersetzt die wesentlichen Eckpunkte. Er prüft den Blutdruck und steckt dem Patienten ein Fieberthermometer ins Ohr. Aldieen bekommt ein Rezept für eine Salbe.

1000 Patienten in fünf Unterkünften

Fast 1000 Patienten hat Shamsi. Fünf Unterkünfte im Landkreis fährt der 33-Jährige an. „Ich bin offiziell Flüchtlingsarzt“, sagt er schmunzelnd. Denn er ist nach seinem Medizinstudium in Damaskus selbst aus Syrien geflohen und erst seit Oktober 2013 in Deutschland. Seine Eltern und Geschwister leben noch in der Heimat. Nach Fortbildungen ist er seit August als Arzt zugelassen. Er hat ehrenamtlich im Notquartier in der Landesmesse mitgeholfen. Mancher Patient von dort, der längst anderswo im Land lebt, ruft ihn immer noch an, wenn er Rat braucht. Jetzt ist Shamsi bei den Maltesern angestellt. „Es ist sehr hilfreich, dass ich Arabisch, Kurdisch, Persisch und Englisch spreche“, sagt er, „einen Dolmetscher brauche ich nicht. Das ist wichtig, um Missverständnissen vorzubeugen und zu erfahren, was dem Patienten auf der Seele liegt.“

Die Arbeit ist nicht immer das pure Vergnügen. Grippale Infekte müssen Shamsi und seine Kollegen behandeln, Bauchschmerzen und Verbrennungen – aber auch Bisswunden oder andere Verletzungen nach Streitigkeiten. „Wenn es notwendig ist, schicken wir die Leute ins Krankenhaus“, sagt der Arzt und berichtet auch von Drogen- und Alkoholproblemen in den Quartieren. Erst wenige Tage zuvor hat sich der Notfallkoffer im Auto bewährt: In der Unterkunft in Aichtal, wo es immer wieder Ärger gibt, lag ein Mann bewusstlos auf dem Boden. „Er hatte sechs Liter Bier getrunken“, sagt Shamsi. Die Arbeit mache ihm trotzdem Spaß: „Die Leute brauchen mich. Die Situation in Deutschland derzeit ist ein Notfall.“

In Tübingen ist ein umgebautes Wohnmobil unterwegs

Die mobile Arztpraxis der Malteser ist einer der ersten Versuche im Land, die Ärzte zu den Flüchtlingen zu bringen anstatt umgekehrt. In Tübingen hat das Rote Kreuz ein Wohnmobil zu einem ähnlichen Fahrzeug umgebaut. In anderen Unterkünften werden Zelte zur Behandlung aufgestellt oder einzelne Sprechstunden angeboten. Auch in Stuttgart gibt es erste Projekte. So besucht ein Kinderarzt aus einer Klinik regelmäßig eine Unterkunft in Möhringen. „Aus den Reihen der Ärzteschaft sind Wünsche an die Stadt herangetragen worden, die Arztpraxen zu entlasten“, sagt Hans-Otto Tropp. Man wolle deshalb die Einrichtung von Sprechstunden in großen Einrichtungen „ergänzend erproben“, so der Leiter des Gesundheitsamts.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Württemberg begrüßt solche Modelle. Und sie will den Gedanken weiterführen. Derzeit wird mit dem Land über eine grundsätzliche Neuregelung der Behandlung für Flüchtlinge verhandelt (siehe Hintergrund). Künftig sollen in so vielen größeren Unterkünften wie möglich feste Sprechstunden angeboten werden. „Wir können die Leute nicht mehr einfach in die Praxen schicken. Für so viele ist das System nicht ausgerichtet“, sagt KV-Sprecher Kai Sonntag. Es gehe um schlichte Sanitätsräume: „Wir brauchen jemanden, der die einfachen Fälle erledigt. Dafür ist keine große Ausstattung nötig.“

Entlastung für Ehrenamtliche und Dolmetscher

Laut Sonntag beseitigt das noch ein anderes Problem neben der Überlastung der Praxen: „Man kann Sprachprobleme einfacher lösen. In den Unterkünften findet sich immer jemand, der übersetzt.“ Das neue System soll auf freiwilliger Basis funktionieren, wo immer sich genügend Mediziner dafür finden. Khaled Shamsi und seine mobilen Kollegen dürfen als Vorreiter gelten.

Die ehrenamtlichen Helfer in Ostfildern sind schon nach kurzer Zeit überzeugt von den regelmäßigen Arztbesuchen in der Blumenhalle. „Diese Geschichte ist für uns sehr wichtig. Wir würden uns freuen, wenn sich das überall durchsetzt“, sagt Ursula Zitzler. Die Sprecherin des Freundeskreises Asyl erzählt, dass bei Besuchen in Arztpraxen immer Ehrenamtliche zur Begleitung dabei sein müssen. Viele dieser Gänge entfallen nun. Zudem ließen sich ansteckende Krankheiten schneller entdecken. „Vor der Initiative der Malteser war die medizinische Versorgung unzureichend und hat teilweise schlichtweg gefehlt“, weiß Ursula Zitzler.

Doch jetzt gibt es ja die mobile Praxis. Etwa jeder zehnte Bewohner der Unterkünfte kommt pro Sprechstunde vorbei – 15 bis 30 Leute innerhalb von zwei Stunden. „Machmal bleiben wir länger, wenn die Zeit nicht reicht“, sagt Shamsi und hört einen jungen Mann ab, der über Husten klagt. Er drückt ihm einige Tabletten in die Hand und rät, viel zu trinken: „Drei bis vier Liter pro Tag.“ In der nächsten Woche wird er nach dem Patienten sehen, wenn er wieder zur Blumenhalle kommt. Jetzt rollt die Praxis weiter.

Hintergrund: Land plant Reform der ärztlichen Betreuung

Bisher müssen Flüchtlinge, die bereits in Stadt- und Landkreisen untergebracht sind, zur ärztlichen Behandlung in normale Praxen. Das kann bei größeren Unterkünften mit vielen Patienten zu Überfüllung führen. „Besonders aus größeren Ballungszentren ist uns das bekannt“, sagt Alexis von Komorowski, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Landkreistages. Zudem ist die Abrechnung kompliziert. Das Land übernimmt die Kosten. Das sind für die Erstaufnahmen im vergangenen Jahr 18,8 Millionen Euro gewesen, für den Gesundheitsanteil in den Pauschalen, die die Kreise pro Flüchtling bekommen, weitere 56,5 Millionen Euro. Kosten, die über diese Pauschalen hinaus gehen, sollen noch nachträglich mit dem Land abgerechnet werden. Die Gesamtsumme dürfte sich also noch erhöhen.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hat eine radikale Umstellung des Systems in Baden-Württemberg vorgeschlagen. Künftig sollen in Unterkünften mit mehr als 50 Bewohnern Sprechstunden angeboten werden. Die Suche nach Ärzten läuft bereits. Genaue Zahlen könne man nicht nennen, heißt es bei der KV, man sei aber zuversichtlich, genügend Mediziner zu finden. Bezahlt werden sollen sie auf Stundenbasis.

Dieses Stundenhonorar ist derzeit noch mit dem Land, das die Kosten übernehmen soll, strittig. Ansonsten aber ist man sich über eine Rahmenvereinbarung einig. Das Land muss den Auftrag aus rechtlichen Gründen ausschreiben und will das noch im Januar tun. Neben der KV könnten auch private Anbieter ihren Hut in den Ring werfen. Nach drei Monaten sollen die nötigen Entscheidungen gefallen sein. Zunächst ist eine Vereinbarung über die landeseigenen Erstaufnahmeeinrichtungen geplant. Städte- und Landkreistag wollen sich anschließend mit eigenen Vereinbarungen an diese Regelung andocken. (jbo)