Im Stuttgarter Reitstadion leben seit Mittwoch Flüchtlinge in Notunterkünften. Wie viele beschließen werden, einfach weiterzuziehen, weiß niemand. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Diskutieren Sie mit - Die Kritik von Johannes Schmalzl schlägt Wellen: Der Stuttgarter Regierungspräsident hat gewarnt, die Politik verliere in der Flüchtlingskrise den Überblick. Denn viele Menschen verlassen die Notquartiere einfach und ziehen weiter. Jetzt will das Land gegensteuern.

Stuttgart/Esslingen - Vor ein paar Wochen war’s in Villingen-Schwenningen. Ein Bus brachte neue Flüchtlinge. Doch die vorgesehene Unterkunft wollten sie nicht beziehen. Stattdessen machten sie sich davon, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Wohin, weiß keiner. So wie kurz darauf in Esslingen, als aus dem Notquartier des Landes in einer Turnhalle über Nacht die halbe Bewohnerschar verschwand. Vermutlich haben sich die Leute auf den Weg zu Verwandten in anderen Teilen Europas oder Deutschlands gemacht. Von Zuteilungsquoten an die einzelnen Bundesländer lässt sich jedenfalls kein Flüchtling beeindrucken. Die Leute wollen ihr Ziel selbst bestimmen.

So paradox das klingt: Obwohl das Land derzeit nicht weiß, wohin mit all den Menschen, ist der unkontrollierte Schwund besonders in den spartanischen Notunterkünften ein Problem. Denn niemand kann danach abschätzen, wie viele Leute sich unregistriert in Baden-Württemberg und darüber hinaus aufhalten – und was sie tun. Der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl hat deshalb die Politik davor gewarnt, den Überblick zu verlieren, und auf Sicherheitsrisiken hingewiesen.

Bis zu 30 000 Menschen könnten einfach verschwunden sein

„Das Land sperrt Flüchtlinge nicht ein. Es kommt vor, dass sie Erstaufnahmeeinrichtungen auf eigene Faust verlassen“, sagt Christoph Häring vom Integrationsministerium. Die Motive seien „dem Land im Einzelnen nicht bekannt“. Zahlen auch nicht. Experten sprechen von einer niedrigen zweistelligen Prozentzahl. Zumindest annähern kann man sich. Bisher sind in diesem Jahr knapp 148 000 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gekommen. 10 000 wurden in andere Bundesländer gebracht, 60 000 an die Land- und Stadtkreise überstellt, 46 000 befinden sich derzeit in Erstaufnahmeeinrichtungen. Bleibt eine Lücke von 32 000 Menschen. Darunter sind Tausende, die noch auf ihre Registrierung warten – der Rest jedoch ist irgendwo verschwunden.

Für gefährlich hält man das beim Innenministerium nicht. „Man kann nicht bestreiten, dass man in diesen Fällen nicht weiß, wer sich wo aufhält“, sagt ein Sprecher. Das sei ein Sicherheitsthema, allerdings „kein dramatisches“. Straftaten seien von diesen Leuten in der Regel nicht zu erwarten, sie wollten schlicht anderswohin, um dort ihren Asylantrag stellen zu können. Ohne Registrierung gebe es auch kein Geld.

Dennoch will das Land gegensteuern. „Um den Schwund zu begrenzen, bauen wir die Registrierung weiter aus, damit sie zügiger erfolgt“, heißt es im Integrationsministerium. Dann sind die Leute bekannt und haben selbst das Gefühl, dass ihr Verfahren voran geht. Bisher gibt es diese Möglichkeit im neuen Registrierungszentrum in Heidelberg sowie in den Erstaufnahmen in Karlsruhe, Ellwangen und Meßstetten. Aufgebaut wird die Registrierung jetzt auch in Donaueschingen, Sigmaringen und Wertheim.

Zögerliche Antworten in Esslingen

In Esslingen weiß derweil auch keiner, wo die ganzen verschwundenen Leute geblieben sind. Herumtollende Kinder, viele junge Leute und wenige Alte vertreiben sich die Zeit in einer Notunterkunft des Landes in der Flandernstraße. Der 19-Jährige Zubair Rajabi leistet den jüngst in Esslingen angekommenen Flüchtlingen Majid Muhammadi und Omed Akbari in der Unterkunft Übersetzerdienste. Rajabi ist vor zwei Jahren nach Deutschland geflohen, genießt Asylstatus und macht den Hauptschulabschluss. Auf die Frage, warum so viele aus den Unterkünften fliehen, antworten die drei Afghanen ausweichend: „Möglicherweise sind sie zu Verwandten, die in anderen Städten wohnen.“ Sie selbst wollen in Esslingen bleiben.

Nicht alle Asylsuchenden teilen dieses Standortbekenntnis. Im  September griffen Bundespolizisten am Stuttgarter Hauptbahnhof in einer Nacht aus Zügen aus München 104 Flüchtlinge auf, die meisten aus Syrien. Für sie endete die Reise zwangsweise in Deutschland. Schleuser hatte sie mit Zugfahrkarten nach Holland oder Schweden ausgestattet. Klar, dass diverse von ihnen ihr Ziel nicht aus den Augen verloren haben.