Ministerpräsident Kretschmann besucht Flüchtlinge in Karlsruhe Foto: dpa

Immer mehr Flüchtlinge, immer mehr Probleme: Der Balinger Landrat Günther-Martin Pauli schlägt nun Alarm. Tenor: Wenn die Landesregierung jetzt nicht handelt, droht die Eskalation.

Stuttgart/Messstetten - Günther-Martin Pauli bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Vor allem lässt sich Landrat des Zollernalbkreises ungern von Dingen abbringen, die er sich vorgenommen hat. Das war in der Vergangenheit immer wieder der Fall. Mal machte sich der CDU-Landtagsabgeordnete für eine Verschlankung der Aufsichtsgremien beim SWR stark, mal setzte er sich für den so genannten Rinderflüsterer von Balingen ein, der sich gegen den Widerstand der grün-roten Landesregierung aus Tierschutzgründen weigert, seinen Tieren eine Ohrmarke einzustanzen.

Nun scheint Pauli beim Thema Flüchtlinge mit seiner Geduld am Ende. „Es kann so nicht mehr weitergehen“, sagte Pauli am Freitag unserer Zeitung mit Blick auf die Belastungen in der Landeserstaufnahmestelle in Messstetten, die für 500, maximal 1000 Menschen ausgelegt ist, derzeit aber 2400 Bewohner hat. „Die Mitarbeiter und die Ehrenamtlichen arbeiten am Anschlag. Wir kommen an unsere Grenzen.“ Die Landesregierung müsse jetzt alle Möglichkeiten ausschöpfen. Einer von Paulis Vorschlägen: Bevor schon überfüllte Landeserstaufnahmestellen weitere Flüchtlinge aufnehmen müssten, sollten leer stehende Kasernen genutzt werden. Und, auch das regt Pauli an: „Wir brauchen eine eigene Flüchtlingsverwaltung. Das Land muss sich deshalb Gedanken machen, wie es Personal aus anderen Bereichen der Verwaltung zumindest für eine vorübergehende Zeit abordnet.“

Vorübergehend könnte freilich ein Trugschluss sein. Auch Pauli ahnt, dass Deutschland und damit auch der Südwesten „mit der Herausforderung Flüchtlinge“ noch etliche Jahre zu tun haben wird. Umso mehr fordert er auch im Namen seiner Kollegen aus dem Landkreistag jetzt mehr Unterstützung von Grün-Rot ein. Es gebe Aufgaben wie die medizinische Betreuung der Flüchtlinge, die Sozialbetreuung oder den Sicherheitsdienst, die Baden-Württemberg auf Dauer nicht allein Privatfirmen überlassen dürfe, „sondern die der Staat leisten muss“. Aus Sicht von Pauli gibt es in den Ministerien und anderen Bereichen der Landesverwaltung „viele gute Leute, die vielleicht an ihrer jetzigen Stelle für einige Zeit verzichtbar sind, die in den Landeserstaufnahmestellen wie Messstetten, Karlsruhe oder Ellwangen „aber dringend benötigt werden“.

Medizin-Check für Zuwanderer

Pauli warnt davor, die Lage zu unterschätzen. Es könne doch nicht angehen, dass zum Beispiel für die Betreuung von 500 Flüchtlingskindern nur fünf Erzieherinnen zur Verfügung stehen und „die dann nebenbei noch die Kleiderausgabe machen müssen“. Damit werde man der Sache nicht gerecht und überfordere die Mitarbeiter. Zudem sei es keine gute Entwicklung, zentrale Aufgaben der Flüchtlingsverwaltung „den Privatfirmen zu überlassen, die dann angesichts der dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen große Geschäfte machen“. Da lohne es für das Land, sich selbst zu engagieren.

Schon Mitte August hatte Pauli beim Besuch von Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) im Zollernalbkreis auf die prekäre Lage verwiesen. Öney hatte gesagt, die Kommunen könnten Anträge zur Einrichtung von Flüchtlingsbeauftragten stellen. Beim Besuch von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) diese Woche in Messstetten erneuerte Pauli seinen Hilferuf. Aus seiner Sicht braucht es zudem „eine zentrale Anlauf-, Beratungs- und Koordinierungsstelle für Flüchtlingsangelegenheiten“. Das Land müsse die Betreuung der Landeserstaufnahmestellen „künftig selbst übernehmen, anstatt private Dienstleister mit den Aufgaben zu beauftragen“. Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünfte seien „hochsensible Bereiche“, da sei die Federführung durch die öffentliche Hand nötig.

Als Beispiel für die Dringlichkeit einer eigenen Flüchtlingsverwaltung nannte Pauli die Untersuchung der Zuwanderer. Es sei zwingend, dass die Menschen so schnell wie möglich den Medizin-Check machen müssen, „aber so viele Ärzte und medizinisches Personal haben wir gar nicht, um das zu leisten. Auf keinen Fall darf die Qualität der Untersuchungen heruntergefahren werden.“ Ähnlich wie im Sozialbereich brauche man deshalb Unterstützung. „Uns ist klar, dass es Mediziner nicht von der Stange gibt. Aber eine zentrale Flüchtlingsverwaltung müsste prüfen“, wo Honorarärzte zur Verfügung stehen oder ob es in anderen Gesundheitsämtern im Land Ärzte gebe, die in den Landeserstaufnahmestellen aushelfen. Wenn das nicht gelinge, werde es Normalität, dass die Flüchtlinge ohne Untersuchung in die Kreise weiterverteilt werden.

Beim Landkreistag in Stuttgart unterstützt man Paulis Vorstoß. „Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen“, sagte ein Sprecher. Das Land müsse „schnellstens prüfen, wo und wie Personal kurzfristig zur Verfügung gestellt werden kann“. Wichtig sei parallel, dass der Bund die Asylverfahren endlich beschleunige. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) hatte diese Woche angekündigt, beim Bundesamt weitere 2000 Stellen zu schaffen.

Kostendeckung über Nachtragshaushalt

Bei Grün-Rot hat das Thema Flüchtlinge inzwischen höchste Priorität. „Wir wissen um den Ernst der Lage und tun alles, um den Kreisen und Kommunen zu helfen“, hieß es am Freitag aus Regierungskreisen. Angesichts der 100 000 erwarteten Flüchtlinge in diesem Jahr allein fürs Land werde die Situation aber immer heikler. Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid (SPD) will einen Teil der gestiegenen Kosten bekanntlich mit einem Nachtragshaushalt für 2015/2016 auffangen. Bislang geht man von mindestens 1,3 Milliarden Euro aus, der Betrag wird „aber weiter steigen“, heißt es auch aus dem Umfeld von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).

Landrat Pauli jedenfalls appellierte am Freitag, die kommunale Ebene jetzt nicht im Stich zu lassen. „Das Land darf die Flüchtlinge nicht einfach bei uns nur abladen, sondern muss auch Personal bereitstellen.“ Wenn dies nicht geschehe, drohten Auseinandersetzungen unter den Flüchtlingen. Pauli: „Es ist inzwischen nicht mehr die Frage, ob, sondern wann die Lage eskaliert.“