„Staatsangehörigkeit ungeklärt“, steht auf den Aufenthaltsgestattungen von Abdul (27), Hassan (24) und Sahel (25). Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Tausende Menschen kommen in diesen Monaten neu ins Land. Nun zeigt sich: In dem Chaos verschwinden offenbar zahlreiche Pässe syrischer Geflüchteter. Für die Betroffenen hat das gravierende Folgen. Ein Beispielfall.

Stuttgart/Karlsruhe - Es sind nur zwei Worte, die den Unterschied machen: „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ steht auf der Aufenthaltsgestattung. Direkt unter dem Geburtsort: Aleppo, Syrien. Staatsangehörigkeit ungeklärt, das heißt so viel wie: kein Syrer, zumindest nicht für die deutschen Behörden. Egal, dachten Sahel, sein Bruder Abdul und Cousin Hassan anfangs – das mache keinen Unterschied, sei bestimmt nur ein Versehen. Schließlich haben sie ihre Pässe ja ordnungsgemäß bei der Bundespolizei abgegeben, damals, als sie Anfang September 2015 am Stuttgarter Hauptbahnhof ankamen. Die Pässe, die belegen, dass sie Syrer sind.

Dass irgendetwas anders ist, haben sie erst gemerkt, als syrische Bekannte aus der Flüchtlingsunterkunft nach und nach ihre Anerkennung erhielten – obwohl sie den Asylantrag erst viel später gestellt hatten. Ja, klar, es war alles chaotisch an diesem 16. Dezember in Karlsruhe, als für die drei jungen Männer endlich das Asylverfahren begann. Die Pässe seien noch nicht beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) angelangt, sagte man ihnen damals. Nachweise über den Passeinzug hatten sie keine bekommen, auch Kopien waren ihnen abgenommen worden. Die drei forschten bei der Bundespolizei nach. Die Pässe habe man ans Bundesamt geschickt, hieß es dort nur.

Tausende syrische Pässe sind verschwunden – für das Asylverfahren hat das Konsequenzen

Und dann eben diese zwei Worte in der Aufenthaltsgestattung, die sie Ende Januar in Stuttgart erhielten. Sahel, Abdul und Hassan sitzen in einem Café in Stuttgart-Feuerbach, kramen das grüne Stück Papier aus ihren Taschen, das sie seit wenigen Monaten besitzen. Das ihren Aufenthaltsstatus regelt, solange das Asylverfahren läuft. Sahel deutet auf eine Nummer auf dem Dokument: Die letzten Ziffern sind anders als bei anderen Syrern, sagt er. 998 steht bei ihnen – normalerweise müsste da 475 stehen. Als die Freunde aus der Unterkunft ihre Anerkennung erhielten, fiel Sahel der Unterschied auf. Könnte das der Grund für die Verzögerung des Asylverfahrens sein?

Es kann, sagt Simone Gräber-Thiemann, Rechtsanwältin aus Stuttgart. Viele Pässe, sagt sie, scheinen irgendwo zwischen Bundespolizei und Bamf zu verschwinden. Vermutlich seien es Tausende, das bestätigen auch ihre Anwaltskollegen. Verschollen in den Untiefen der Behörde – kein Wunder, bei den Mengen an Pässen, die dort in den vergangenen Monaten täglich landeten.

„Das Problem ist nicht unbedingt das Verschwinden“, sagt die Anwältin, „meistens tauchen die Pässe irgendwann wieder auf.“ Oft allerdings zu spät. Das Problem sei, dass der Nachweis über die Nationalität ohne den Pass erschwert werde. „Ist der Pass noch nicht aufgetaucht, wenn der Asylantrag gestellt wird, sagt das Bamf, das sind keine Syrer“, so Gräber-Thiemann. Der Asylantrag lande dann nicht auf dem Stapel für Syrer, dem schnellen Stapel, sondern einem anderen, einem, der viel langsamer abgearbeitet wird. „Das führt definitiv zu einer Verlängerung des Verfahrens, theoretisch sogar bis dahin, dass die Anerkennung verweigert wird“, sagt Gräber-Thiemann. Dabei bekommen Flüchtlinge aus Syrien nicht nur zu fast hundert Prozent eine Anerkennung, sondern wegen der hohen Bleibeperspektive auch ein beschleunigtes Asylverfahren.

Das Bundesamt scheint mit der Zuordnung der Pässe zu Fällen überfordert

Wie groß das Problem ist, ahnen Sahel, Abdul und Hassan wohl nicht. Ahnt vermutlich kaum jemand, denn berichtet wurde darüber bislang nicht. Klar scheint nur, das zeigten Medienberichte vor einigen Monaten, dass etliche Pässe fehlen, wenn beispielsweise Asylsuchende aus Osteuropa abgeschoben werden sollen. Auch das führt zu Problemen, denn ist der Pass verschollen, kann ein Geflüchteter nicht ausgewiesen werden. Dass das Chaos mit den Pässen aber auch Syrer betrifft, ist neu. Und auch, dass sich dieser Umstand wohl direkt auf das Asylverfahren und die Anerkennung der betroffenen Schutzsuchenden auswirkt.

„Das Bundesamt ist mit der Zuordnung der Fälle ganz offensichtlich überfordert“, sagt auch Angelika von Loeper, Vorsitzende des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. „Dass ein Fehler des Amtes aber auf die Flüchtlinge zurückfällt, das ist ein Skandal.“ Vor allem, weil sich die Anerkennung ewig ziehen könne, die Herkunft aus Syrien im Nachhinein mühsam nachgewiesen werden muss, notfalls erst mit einem Anwalt. Dabei ahnen die meisten Betroffenen wohl kaum, warum ihr Verfahren so lange dauert. Auch nicht, dass sie aktiv etwas unternehmen müssten, sagt Rechtsanwältin Gräber-Thiemann. Ohne Anerkennung, so die Anwältin, könne aber beispielsweise auch die Familie nicht nachgeholt werden, selbst wenn sie bereits irgendwo in einem Camp wartet, könne keine Arbeit begonnen werden, vielleicht nicht einmal der Integrationskurs.

Wie aber kommt es, dass tausende Pässe nicht mehr zugeordnet werden? Wenn Flüchtlinge nach Deutschland einreisen, landen sie meist zuerst bei der Bundespolizei – an der Grenze oder in Bahnhöfen. „Wir nehmen Fingerabdrücke und Pässe ab und geben den Leuten Ersatzdokumente mit“, sagt eine Sprecherin der Bundespolizei in Potsdam. Die Pässe seien im vergangenen Herbst während des größten Andrangs direkt an die zuständigen Bamf-Außenstellen geschickt worden. Heute, heißt es in Stuttgart, sei auch noch die Landespolizei zwischengeschaltet. Beim Bamf verbleiben die Dokumente in der Regel bis zum Abschluss des Asylverfahrens, also über Monate.

Berge von Rückständen in der Bamf-Außenstelle in Karlsruhe – zweite Außenstelle könnte kommen

Zumindest, wenn die Pässe gefunden werden. Beim Bamf in Nürnberg räumt man Schwierigkeiten ein: „Bei der hohen Zahl von geflüchteten Menschen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, haben wir Probleme mit Pässen von Personen, die noch keinen Asylantrag gestellt haben“, sagt eine Sprecherin. Man habe deshalb Ende 2015 eine Datenbank in Betrieb genommen, in die Pässe eingegeben werden, die nicht zuzuordnen sind. Nachteile entstünden Betroffenen aber nicht.

Aus Behördenkreisen ist zu hören, dass die Situation an der Bamf-Außenstelle in Karlsruhe nach wie vor besonders schwierig sei. „Dort gibt es Berge von Rückständen“, sagt eine Insiderin. Das Bamf denke deshalb zurzeit darüber nach, in der Nähe eine zweite Außenstelle aufzubauen. Bei der Karlsruher Erstaufnahmestelle des Landes ist man inzwischen dazu übergegangen, Pässe von Flüchtlingen, die direkt dorthin kommen und ihre Dokumente noch haben, gar nicht mehr ans Bamf weiterzuleiten, sondern direkt an die Kommunen, in die die Asylsuchenden geschickt werden.

Für Sahel, Abdul und Hassan heißt es nun wohl wieder einmal: warten. Zwei ihrer Pässe sind inzwischen beim Bundesamt aufgetaucht – doch der dritte Pass ist nicht mehr auffindbar. „Wir suchen bei der Bundespolizei“, heißt es beim Bamf. Das Asylverfahren wird sich vermutlich hinziehen – für die drei jungen Männer ein Dämpfer. „Um weiterzulernen brauchen wir die Anerkennung“, sagt Sahel. Im Herbst wollten sie ein Masterstudium beginnen, ihre Berufsabschlüsse anerkennen lassen – die Deutschkenntnisse dafür haben sie nun. Ohne als Syrer zu gelten, könnte das nun aber schwer werden.

Flüchtlinge im Südwesten – Die Serie im Überblick

Serie: Flüchtlinge im Südwesten

Von Jürgen Bock, Melanie Maier, Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Sie flüchten vor Krieg, Diktatur und Armut: Tausende Menschen kommen in diesen Tagen nach Deutschland. Drei davon sind Hassan, Abdul und Sahel aus Syrien. Anfang September 2015 sind sie in Stuttgart aus dem Zug gestiegen. Was ist seither geschehen? Was empfinden Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland – und wie kommen sie zurecht? Unsere Autoren begleiten die drei jungen Syrer bei ihren ersten Schritten im Land. Ein Langzeitprojekt.

Teil 1 (01.09.2015): Fahrkarte ins Schlaraffenland? Flüchtlinge am Hauptbahnhof Stuttgart. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 2 (10.09.2015): Sieben Tage Deutschland: Besuch in der Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe. Von Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Teil 3 (12.10.2015): Vokabeln pauken gegen Langeweile: Warten auf das Asylverfahren. Von Melanie Maier, Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 4 (28.10.2015): Leben hinter Absperrgittern: Notquartier in der Turnhalle. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 5 (11.12.2015): Neue Heimat, fremdes Leben : Besuch auf dem Weihnachtsmarkt. Von Melanie Maier und Hanna Spanhel

Teil 6 (21.12.2015): Chaos und Überforderung: Asylantragstellung in Karlsruhe. Von Jürgen Bock und Siri Warrlich

Teil 7 (27.01.2016): Schlüssel zu einer neuen Zukunft : Auszug aus dem Notquartier. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 8 (24.02.2016): Gaisburger Marsch mit Sofa: Einrichten der neuen Wohnung. Von Jürgen Bock und Melanie Maier