Wurstexperte und Buchautor Kurt Nagel: "Goethe wollte seinen Schwartenmagen" Foto: factum/Granville

Wurst ist für Kurt Nagel (76) ein Ausdruck von Lebensgefühl. Rund 40 Bücher hat er zu diesem Thema geschrieben. Nagel fordert aber auch einen angemessenen Konsum und setzt auf Qualität statt Quantität.

Stuttgart - Herr Nagel, wie kamen Sie als Experte für Unternehmensführung dazu, 1984 ein Fleischermuseum in Böblingen ins Leben zu rufen?
Ich habe mir ein Beispiel an Ulm genommen, wo ich aufgewachsen bin. Dort gibt es ein Museum für Brotkultur – und dabei üben doch die Metzger das älteste Handwerk aus. Mein Vater war Obermeister und hat schon immer historische Gegenstände aus seinem Handwerk gesammelt, ich selbst hatte deshalb immer einen Bezug zu Fleisch und Wurst, und Böblingen kam infrage, weil dies die Hochburg der Brühwürste ist.
Und wie kam dann die Kunst zur Wurst und ins Museum?
Ich wollte etwas zeigen, das nicht nur die Metzger interessiert. Seit Jahren habe ich schon ziemlich einäugig die Museen Europas besucht auf der Suche nach Schlachtmotiven und Bratenstücken. Und sehr viele Künstler haben sich mit dem Thema beschäftigt, darunter auch Otto Dix mit seinem Kalbskopf. Weil aber vor allem die Karikaturisten mit Vergnügen Tiere zeichnen, habe ich zu einigen Kontakt aufgenommen, und Mordillo hat uns zur Eröffnung und zum 30-jährigen Bestehen die Ehre erwiesen. Joachim Kupke aus Sindelfingen hat extra für uns das Bild „Schinken im Glas“ gemalt, und von ihm stammt auch das Bild, wo sich ein Schwein über einen Menschenkopf hermacht.
Das hört sich nach harter Kost an.
Nein. Die meisten Künstler gehen das Thema mit feiner Ironie an wie Helme Heine, bei dem die Schweine auf ihren Hinterbeinen stehen und „Esst mehr Obst“ fordern, oder der Cartoon von Doris Schamp, bei dem sich zwei Ferkel unterhalten und das eine fragt: „Was willst du werden, wenn du groß bist?“ „Du . . . Wurscht!“, ist die Antwort.
Ist es in veganen Zeiten überhaupt noch politisch korrekt, sich zu Fleisch und Wurst zu bekennen?
Ja. Ich gebe zu, ein verehrendes und verzehrendes Verhältnis zu Fleisch- und Wurstwaren zu haben – allerdings in angemessenem Umfang. Ich verstehe aber auch Vegetarier und Veganer. In unserem Museum arbeitet auch jemand, der sich vegan ernährt. Für mich ist die Qualität des Produkts der entscheidende Faktor. Wenn ich weiß, dass das Tier, das ich esse, artgerecht gehalten und gefüttert wurde, dann kann ich auch die hervorragende Schwarzwurst von Walter Hörnstein aus Höfingen, der nebenbei noch Künstler ist, genießen.
Was fällt Ihnen zur Billigfleischbeglückung der Massen ein?
Ich kann die Leute nur bitten umzudenken, lieber seltener Fleisch zu essen, dafür aber mehr Geld für Qualität auszugeben und auch mal wieder ein marmoriertes Steak zu essen, dessen Fett bekanntlich ein Geschmacksträger ist. Nur mager geht nicht.
Ist für Sie eine Wurst auch ein Ausdruck von Lebensgefühl?
Aber ja. Das sieht man an der Stadionwurst, die zum Besuch eines Fußballspiels gehört. Oder nehmen Sie die Currywurst, die in Berlin als Standardessen gilt. Die Bayern schwören auf die Weißwurst, und die Experten streiten immer noch, ob sie geschnitten oder gezuzzelt gegessen werden soll. Für mich soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden.
Welche Rolle spielt die Wurst in der Geschichte?
Bis zum 16. Jahrhundert wurden die Würste nur warm gegessen. Napoleon hat dann für seinen Feldzug nach Russland die Würste räuchern lassen, um sie haltbar zu machen. Und die Nürnberger Rostbratwurst ist so klein, damit sie durch ein Schlüsselloch gepasst hat, denn so um 1510 waren die Sperrzeiten in den Gasthäusern sehr streng, und so konnte man sie heimlich durchschieben. Goethe war ein Wurstliebhaber, wollte auch in Weimar nicht auf seinen Frankfurter Schwartenmagen verzichten. Übrigens ist das Wort Hanswurst ursprünglich nicht negativ gemeint gewesen, sondern vielmehr ein Synonym für die deutschen Wurstmacher, die mit rund 1560 Sorten weltweit führend sind.
Haben Sie eine Lieblingswurst?
Eigentlich nicht. Ich verfahre nach dem Prinzip: alles zu seiner Zeit. Aber natürlich bin ich ein Fan unserer Museumswurst, die in fast allen Metzgereien rund um Böblingen nach dem gleichen Rezept hergestellt wird. Ich mag, dass sie ein bisschen grober ist als andere.
Vor kurzem gab es ja mal die Diskussion im Böblinger Gemeinderat, das Fleischermuseum mangels Rentabilität zu schließen. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Wir müssen das Ganze noch erweitern im Sinne einer Neugestaltung. Viele haben ja ein schwieriges Verhältnis zum Essen, und man könnte das Thema Ernährung und Verbrauchertipps mehr in den Vordergrund rücken. Wir brauchen ein vernetztes und ganzheitliches Denken, was Essen und Trinken angeht. Und ich bin natürlich weiter auf der Suche nach passsenden Künstlern.