Die Geschützstellung in Feuerbach nach einem Angriff Foto: Queck

Die Jugend von damals sollte kämpfen. Schätzungen zufolge missbrauchte das Nazi-Regime 200 000 Heranwachsende als Flakhelfer. Selbst 15-Jährige wurden eingezogen – wie Hermann Queck.

Stuttgart - In der Gaststätte Föhrich in Stuttgart-Feuerbach, wo die Werner-Pfleiderer-Sportgruppe, die Firma Bosch und die FC Stiefelkicker ihren Stammtisch haben, werden an diesem Dienstag etwa ein Dutzend älterer Herrschaften erwartet. Einen Stammtisch haben sie nicht. Dazu sehen sie sich zu selten. Doch es verbindet sie vieles. Vor allem die Erinnerung an ihre Zeit als deutsche Kindersoldaten . . .

Luftwaffenhelfer wurden sie verharmlosend. Das war vor 70 Jahren. Damals, als sich der Kriegsverlauf nach Stalingrad gedreht hatte und der ausblutenden Wehrmacht die Männer ausgingen, wurden Minderjährige zu den Flakstellungen an der „Heimatfront“ beordert. Sie sollten die Soldaten ersetzen, die in die verbleibenden Schlachten geworfen wurden. Die Jahrgänge 1926 und 1927 – damals 16- und 17-Jährige – mussten alsbald selbst in den Krieg ziehen. Deshalb wurden von Januar 1944 an auch die 15-Jährigen eingezogen. „Die jüngsten Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs waren Pimpfe“, sagt Hermann Queck.

Er war einer von ihnen, geboren in Gerlingen am 11. November 1928. „An Weihnachten haben wir noch unter dem Christbaum Eisenbahn gespielt, im Januar wurden wir eingezogen – zum Entsetzen der Eltern“, erzählt der 85-Jährige.

Bis Februar 1945 war er bei „der Flak“. Seine Stellung befand sich auf der Banzhalde in Stuttgart-Feuerbach. Zusammen mit etwa 20 anderen Luftwaffenhelfern, einem Geschützführer und einigen russischen Kriegsgefangenen hielt er die Stellung. Der 15-jährige Hermann saß an der Kurbel, mit der die Vier-Zentimeter-Geschütze in Position gebracht wurden. Andere schleppten Patronen oder entsorgten Hülsen.

Parallel zum Kriegsdienst ging die Schule weiter. Baracke statt Klassenzimmer. Morgens kletterten die Lehrer über den Geschützwall und versuchten, den übernächtigten Jugendlichen Mathe oder Deutsch beizubringen.

Eine unwirkliche Situation, die viele der Halbwüchsigen anfangs als Abenteuer empfanden. „Das war wie Indianerles spielen“, sagt Queck auf Schwäbisch. Dazu kam der Stolz, dass man sie für fähig hielt, die Heimat gegen die feindlichen Bombergeschwader zu verteidigen. Ideologie? Nazitum? Queck schüttelt den Kopf: „Damit hatten die 15-Jährigen nichts am Hut.“

Aus dem Indianerles-Spiel wurde schnell Ernst; mehrfach geriet die Geschützbatterie in Feuerbach ins Visier der angreifenden Flugzeuge. Sie war Teil eines ursprünglich dichten, dann immer dünner werdenden Flakschutzes rund um Stuttgart. Mehrfach wurden Geschütze aus der Stadt abgezogen samt den dafür eingeteilten Luftwaffenhelfern – etwa nach Friedrichshafen, um die Rüstungsbetriebe zu schützen. Ein vergebliches Manöver. Am 3. August 1944 kam es dort zu einem massiven Luftangriff auf die Abwehrstellungen, bei dem neben vielen Soldaten und Zivilisten auch 23 junge Luftwaffenhelfer aus Aalen, Ebingen und Heilbronn und Friedrichshafen getötet wurden. Kurz zuvor, am 29. Juli, waren in Degerloch acht Kindersoldaten ums Leben gekommen, 15- und 16-jährige Schüler des Stuttgarter Wagenburg- und des Wilhelmsgymnasiums. In der vierten von vier aufeinanderfolgenden Angriffsnächten, in denen Stuttgart sein Gesicht und viele Einwohner ihr Leben verloren, hatte ein britischer Bomber eine Luftmine über der Kommandozentrale an der Degerlocher Tränke abgeworfen. Neben den acht Flakhelfern starben zehn Soldaten. Eine fast vergessene Tragödie, an die der Degerlocher Schriftsteller und Historiker Gerhard Raff erinnerte. Seine Mutter hatte ihm, wenn sie mit dem Kuhfuhrwerk an der Stelle vorbeifuhren, erzählt: „Da send die Buaba glega, ond mr hat se schreie gheert bis en Flecka nei.“

Dank der Initiative Raffs und des ehemaligen Flakhelfers Rolf Armbruster steht dort heute ein Mahnmal des Bildhauers Markus Wolf in Form einer geborstenen Säule, finanziert von Schulkameraden der gefallenen Jungen. An der Einweihung 1996 nahm Stuttgarts früherer Oberbürgermeister Manfred Rommel teil; er war Flakhelfer in Ulm gewesen. Ein anderer Stuttgarter Kindersoldat, der später Bekanntheit als Unternehmer erlangen sollte, ist Rudi Häussler (86). Das Geschütz, das er bedienen half, stand in Vaihingen.

Seit der Einweihung des Mahnmals treffen sich ehemalige Luftwaffenhelfer jedes Jahr an Ort und Stelle zu einer Gedenkfeier mit Gottesdienst – dieses Jahr am 28. September. Auch in Friedrichshafen wird der toten Flakhelfer gedacht. Unweit der ehemaligen Geschützstellungen im Ortsteil Schnetzenhausen erhebt sich seit 1996 eine Kapelle. Dort versammeln sich die Überlebenden der Jahrgänge 1926 bis 1928 regelmäßig Anfang August.

Hermann Queck hat den deutschen Kindersoldaten im Südwesten ein eigenes Denkmal gesetzt. 2010 brachte er eine 450-seitige landesweite Dokumentation heraus mit dem Titel „Noch einmal davongekommen“ (Verlag DMZG Gerlingen). Sie enthält persönliche Schilderungen früherer Luftwaffenhelfer. Außerdem Fotos, die es eigentlich nicht geben dürfte, denn das Fotografieren war in den Geschützstellungen streng verboten. Queck machte aus den Dokumenten ein großes Buch des Andenkens und der Mahnung.

Für ihn selbst endete die Zeit als Flakhelfer Ende Februar 1945 mit einem Marschbefehl nach Heilbronn. Zusammen mit anderen Halbwüchsigen sollte er jetzt die Amerikaner am Boden aufhalten . . . Auf abenteuerlichen Um- und Irrwegen kehrte der 15-Jährige im April 1945 zu Fuß nach Gerlingen zurück – um wenig später zu erfahren, dass sein um ein Jahr älterer Bruder Helmut in den letzten Kriegstagen gefallen war.

Vor seinem Abmarsch von der Flagstellung in Feuerbach hatten sich Hermann Queck und die anderen Luftwaffenhelfer noch verabredet. Für den Fall, dass sie den Krieg überleben sollten, wollten sie sich am 5. 5. 1950 um 5 Uhr nachmittags auf der Banzhalde 5 treffen. Sie machten es wahr.

Heute ist wieder so ein Datum: 29. Juli, der Tag, an dem vor 70 Jahren ihre Altersgenossen in Degerloch fielen. Queck und andere ehemalige Feuerbacher Kindersoldaten haben sich deshalb verabredet: 12 Uhr, Gaststätte Föhrich. Kein Stammtisch. Einfach Beisammensein. Solange es noch geht.