Sinnlich: das Teatro Ribalto mit Julie Anne Stanzak und Mattia Peretto Foto: Colours

Finale beim Stuttgarter Colours-Festival: Das Teatro la Ribalta, Teac Damsa, die Company Idem und Rosas bescheren dem Publikum einen anspruchsvollen Abschluss mit Botschaft – im Theaterhaus und in der Stadt.

Stuttgart - Colours hat Eric Gauthier sein Festival clever genannt. Unter diesem Dach lässt sich unkompliziert viel zusammenbringen, jede Farbe, jede Schattierung des Tanzes – von Ballett bis Stepptanz, von Hip-Hop bis Zirkusartistik. Die schwierige Kunst dabei ist, kunterbunte Beliebigkeit zu vermeiden. Wie das gehen kann, konnte man auch am letzten Wochenende des am Sonntag zu Ende gegangenen Stuttgarter Festivals bewundern.

Mit Handicap

Kann Tanz einen Performer mit Downsyndrom und eine Weggefährtin Pina Bauschs zusammenbringen? Das Teatro Ribalta beeindruckt das Colours-Publikum mit „Niemand weiß von uns“. Das Ensemble aus Bozen integriert Menschen mit Beeinträchtigung; Mattia Peretto, der hier mit Julie Anne Stanzak vom Tanztheater Wuppertal auf der Bühne ist, hat das Downsyndrom. In dem gemeinsam erarbeiteten Stück bestürmt die Tänzerin den Behinderten regelrecht mit ihrer Liebe. „Ich möchte dir helfen. Ich habe alle Zeit der Welt!“

Doch Peretto versteckt sich in einem Schrank und zeigt ihr den Vogel. Ihr Mitgefühl kommt nicht an. „Warum?“, fragt er sie ständig. Kokett bis expressiv wirbt sie dennoch. Er benetzt sie mit Wasser aus einem Eimer voller Tränen. Aus derlei Gesten entwickeln die zwei in dem sinnlichen Stück – auch Sand dient als Requisit – doch gemeinsame Tanzsequenzen. Nah kommt sie ihm erst, als sie die Initiative abgibt und eine Beziehung auf Augenhöhe sucht. (abe)

Missbrauch am „Schwanensee“

Zeitgenössische Milieustudie statt entrückter Sagenwelt: Was die irische Kompanie Teac Damsa in „Swan Lake/Loch Na Heala“ vorführt, folgt motivisch dem bekannten Ballettmärchen „Schwanensee“ – und ist doch alles andere als das. Prinz, Schwäne und den bösen Zauberer begleitet keltische Musik, live gespielt auf Streichinstrumenten und Nyckelharpa, statt Tschaikowski. Michael Keegan-Dolans Adaption des berühmten Märchenstoffs, beim Colours-Tanzfestival als Koproduktion und deutsche Erstaufführung gezeigt, besticht durch diese Gratwanderung.

Mehr Theaterperformance als Tanz lässt sie den traditionellen Stoff durchscheinen und erzählt in trashigen schwarz-weißen-Bildern eine ganz andere Geschichte: von priesterlichem Missbrauch, krankhafter Depression, Perspektivlosigkeit und sozialem Notstand. Weit mehr als der kollektive Tanz mit raumgreifenden Oberkörperschwüngen beeindruckt die Präsenz der Darsteller Mikel Murfi als Priester und Erzähler, Alexander Leonhartsberger als männliche Hauptfigur Jimmy O’Reilly, die mittlerweile vierundachtzigjährige Elizabeth Cameron Dalman, Gründerin des Australian Dance Theaters, und die bei aller Tristesse doch sehr poetische Szenerie. (jul)

Im Gleichgewicht

Mit ganz unterschiedlichem Anspruch und mit Fragestellungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, stiegen die Company Idem aus der Schweiz und Rosas aus Belgien in den Colours-Ring. Wie stellt man mit tänzerischen Mitteln ein Gleichgewicht wieder her, wenn einer am Boden liegt und ein anderer ihn mit Füßen traktiert? „Equi-Libre“ heißt dieser eigenwillige Pas de deux, mit dem Clément Bugnon und Matthias Kass am Freitag und Samstag Colours in die Stadt trugen, auf die Königstraße vor der Buchhandlung Wittwer. Und die Antwort, die die beiden Absolventen der John-Cranko-Schule nach einem artistischen wie ästhetischen Ansprüchen genügenden Zweikampf formulierten, will über den Tanz hinaus wirken. Soll Gewalt nicht in der bekannten Spirale enden, braucht es ein von vielen Händen stabilisiertes Gleichgewicht. (ak)

Rosas jazzt

Rein aus dem Tanz heraus gedacht ist der Rosas-Jazz-Klassiker „A Love Supreme“. Wie setzt man Musik so um, dass Bewegungen die Strukturen einer Komposition sichtbar machen können? 2005 tat sich Anne Teresa de Keersmaeker für ihre Antwort auf John Coltranes berühmtes Saxofonstück mit dem katalanischen Choreografen Salva Sanchis zusammen. Vier junge Tänzer übernehmen für die Neufassung, die nun bei Colours Station machte, in einem kargen, aufs Wesentliche konzentrierten Raum die Stimmen der Instrumente. Und auch wenn im Abstand eines Jahrzehnts doch manches befremdet, etwa das lange Warmlaufen des Quartetts oder die nervösen, überchoreografierten Reaktionen auf die Saxofonmelodie, fesselt „A Love Supreme“ vor allem durch intensive Gruppenszenen – ein gemeinsames Durchatmen, das wie eine Insel in unruhiger See liegt.

Egal ob auf der Stuttgarter Königstraße oder im geschützten Raum des Theaterhauses: Die Company Idem und Rosas stehen nicht nur für unterschiedliche Tanzfarben, sondern für das, was Colours zusammenhält: für die Sensibilität im Umgang mit anderen, ob es nun musikalische Stimmen oder Mitmenschen sind. (ak)

Tue Gutes!

„Dance for Good“ heißt die Colours-Initiative, die Menschen zum Tanzen animiert und so Geld für Gutes sammelt. Ein Projekt mit jungen Flüchtlingen, das bei der aktuellen Auflage von Colours zu erleben war, ist durch eine Aktion beim ersten Festival 2015 ermöglicht worden. In diesem Jahr fließt der Erlös in ein integratives Tanz- und Theaterprojekt für Menschen mit Behinderung. 5000 Menschen sammelten im Verlauf der 18 Festivaltage tanzend mit, der Sponsor Mercedes-Benz-Bank verdoppelte die Summe auf 50000 Euro. Mit dem Tanz möglichst viele und viel zu erreichen, ist erklärtes Ziel von Eric Gauthier; bei seiner zweiten Auflage trat Colours deshalb mit erweitertem Programm in der Stadt auf. Rund 8000 Menschen wurden so durch verschiedenen Veranstaltungen und Mitmachaktionen erreicht – das junge Publikum etwa mit einer Hip-Hop-Battle in der Skaterhalle und der Virtual-Reality-Installation „Whist“.

„Diesmal haben wir es wirklich geschafft, mit Colours alle Generationen anzusprechen“, freut sich Eric Gauthier über die Resonanz. „Unser Festival hat einmal mehr bewiesen: Stuttgart und der Tanz sind einfach füreinander geschaffen.“ (ak)