Diane Kruger spielt sich in Fatih Akins NSU-Drama „Aus dem Nichts“ in Cannes überraschend in die Riege der Palmen-Favoritinnen. Foto: Festival

Auf diesen Film haben beim Festival von Cannes viele Besucher gespannt gewartet: Fatih Akin erzählt in „Aus dem Nichts“ vom Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds und von der skandalösen Ermittlungsarbeit. Trotz der starken Hauptdarstellerin Diane Kruger enttäuscht das Drama aber – es sei denn, man ist „Tatort“-Fan.

Cannes - Es ist wohl kein behördliches Versagen in der jüngeren deutschen Geschichte empörender als die Ermittlungspannen zu den Morden des NSU. Wut und Scham über dieses kollektive Polizei- und Verfassungsschutzdebakel schreien danach, in einen Film gegossen zu werden – und wer wäre dazu geeigneter als Fatih Akin? Wie kaum ein anderer deutscher Regisseur beherrscht Akin das filmische Vokabular für die nötige Wucht, die ein solches Mahnmal haben muss. „Diese Opfer sind zweimal gestorben“, sagte der Regisseur bei der Wettbewerbspräsentation seines Films „Aus dem Nichts“ in Cannes in angemessener Deutlichkeit. „Man hat sie verdächtigt, nur weil sie Türken oder Kurden waren.“

„Aus dem Nichts“: Schon die drei Worte des Titels des Films suchen die Nähe zu den knappen Überschriften von Akins explosiven Frühwerken „Kurz und schmerzlos“ und „Gegen die Wand“, die in Locarno und Berlin prämiert wurden und ihn weltbekannt machten. Obwohl er sich in seiner freien Auseinandersetzung nur von einem einzelnen der NSU-Morde widmet und die Kölner Keupstraße nach Hamburg verlegt, erweitert er die Spirale des größtmöglichen staatlichen Versagens noch um eine weitere Drehung: In seinem Gerichts- und Rachethriller wird das überlebende Täterpaar trotz erdrückender Beweise am Ende freigesprochen.

Vor und nach der Bombe

Mit den knappen, aber pointierten Pinselstrichen von Amateurvideos skizziert Akin zunächst eine glückliche Familiengeschichte. Im Gefängnis heiratet eine Mittelschichtsdeutsche (Diane Kruger) einen ehemaligen Cannabis-Dealer kurdischer Abstammung (Numan Acer). Eine glückliche Resozialisierung nimmt ihren Anfang schon im Knast, in Freiheit etabliert sich der Mann dann erfolgreich mit einem Übersetzungsbüro. Trotzdem wird ein Polizeikommissar seine Witwe später fragen, wie sie sich die Raten für ihr Eigenheim leisten konnten.

Eine Nagelbombe hat da sowohl den Mann als auch den gemeinsamen kleinen Sohn des Paares in den Tod gerissen. Es folgen einige der besten Szenen des Films. Nur wenige Minuten reichen Fatih Akin, die seelische Isolation seiner Heldin eindringlich zu machen. Während die Eltern des Toten die Trauernde brüskieren, als sie die Leichen in die Türkei verschiffen wollen, schlägt sich die Mutter der Witwe auf die Seite der Verdächtiger des Opfers: War ja klar, dass sie von dem Mann nichts Gutes zu erwarten hatte. Die Polizei schließlich durchfleddert das Trauerhaus mit einer Hausdurchsuchung.

Der „Tatort“ lässt grüßen

Die erste halbe Stunde von „Aus dem Nichts“ legt in ihrer ökonomischen Erzählweise (Schnitt: Andrew Bird) den Boden für das, was ein großer Film hätte werden können. Dann jedoch übernehmen Genrekonventionen die Regie, die des Gerichtsfilms und des Rachethrillers, und auch ein wenig „Tatort“ weht in den Film herein, mit einem zerknautschten Kommissar nämlich, der seine braune Lederjacke auch im Zeugenstand nicht ablegt. Bei der Pressekonferenz in Cannes sorgte die freundliche Zeichnung der Polizei für Irritation. „Das ist wohl so passiert“, erklärte Fatih Akin etwas verlegen. „Ich war beim Dreh ja von viel umgeben.“

Unglaubliches aus dem echten Prozess

Kein Geringerer als die Hamburger Autorenfilmlegende Hark Bohm arbeitete am Drehbuch mit, was wohl den die Handlung dominierenden Gerichtsszenen zugute kommen sollte. Hier fällt auf, dass die Staatsanwaltschaft im Prozess praktisch unsichtbar bleibt. Eine Hommage an die wichtige Rolle der Nebenkläger im aktuellen Münchner Prozess? Allein der Anwalt der Witwe führt die Verhandlung. Denis Moschitto ist in dieser Rolle, um es mit einem Bohm-Film auszudrücken, selbst „der kleine Staatsanwalt“.

„Genau so war es an den Prozesstagen im NSU-Prozess, die wir besuchten“, sagt Akin. „Der Staatsanwalt machte nichts. Der hörte nur zu.“ Das allerdings ist eine wichtige Beobachtung, die dem Film eine zusätzliche Schärfe hätte geben können – wenn sie denn thematisiert worden wäre. So wie die Gerichtsszenen hier ablaufen, wirkt der überraschende Freispruch indes selbst bei größtem Misstrauen gegenüber der deutschen Justiz kaum vorstellbar. Nicht nur, dass die Witwe die Täterin bei der Bombenlegung beobachtet hat, die Reste des Bombenmaterials finden sich samt Fingerabrücken in der Garage des Vaters des Beschuldigten.

Auf Diane Krugers Schultern

Dies müsste in einen Justizskandal münden, doch Fatih Akin interessiert sich nur für die Wirkung des Urteils auf die Heldin. Er zeigt ihr Porträt mit Hitchcocks berühmtem Vertigo-Effekt. Wenig später sieht man sie dann als Rächerin selbst beim Bombenbau – übrigens eine gewagte Szene bei einem Festival, wo die Besucher mehrmals täglich nach Verdächtigem durchleuchtet werden.

Vielleicht hätte es sogar einen Weg gegeben, dieses der Realität entnommene Sujet in ein so künstliches Produkt wie einen weiblichen Rache-Thriller zu überführen. Doch dies hätte eine Abkehr vom „Tatort“-Realismus verlangt. Tatsächlich aber liegt die psychologische Glaubwürdigkeit am Ende auf Diane Krugers Schultern. Und ihre Leistung – ihre erste Rolle in einer deutschsprachigen Produktion – ist schließlich das einzig Außergewöhnliche an diesem Film. Gut möglich, dass Kruger am Sonntagabend einen Preis erhält.

Dafür verfehlten bekannte Namen wie Todd Haynes und zuletzt François Ozon (mit dem effektheischenden Erotikthriller „L’amant Double“) reihenweise die Erwartungen. So wird es wohl auf zwei andere geschichtsträchtige Filmdramen hinauslaufen: Obwohl bei der Kritik umstritten, ist Robin Campillos „120 Battements par Minute“ die bislang bedeutendste Aufarbeitung des frühen Kampfs gegen den HIV-Virus und die Hüter wirksamer Medikamente. Und Sofia Coppola zeigte mit „The Beguiled“ („Die Verführten“), dass man einem großen Filmklassiker die weibliche Perspektive nachreichen kann.