Harvey Keitel (Mi.) und Michael Caine (re.) in „Youth“ Foto: Cannes Filmfest / dpa

Betont politisch sollte es dieses Jahr beim Filmfest in Cannes zugehen. Doch ausgerechnet der in diesem Feld favorisierte Film „Dheepan“ von Jacques Audiard enttäuschte. entsprechend offen ist das Palmen-Rennen.

Cannes - „No Country for Old Man“, mit diesem Titel waren die Coen-Brüder vor acht Jahren in Cannes vertreten. Diesmal sind sie als Präsidenten der Jury dabei, da dürften sie freundlicher zu alten Männern sein und ihnen wohl Palmen spendieren. Vielleicht sogar Gold für das opulente Senioren-Drama „Youth“ von Oscar-Gewinner Paolo Sorrentino („La Grande Bellezza – Die große Schönheit“), aber wahrscheinlicher die Ausszeichnung für dessen Hauptdarsteller Michael Caine, der darin eine großartige Meisterleistung bietet.

Der 82-jährige Brite gibt den berühmten Komponisten Fred Ballinger, der mit dem Ruhestand zufrieden ist. Mit seinem langjährigen Freund Mick (Harvey Keitel) macht er Urlaub in einem Luxus-Sanatorium in den Schweizer Alpen. Man plaudert entspannt über Prostata-Probleme und verflossene Liebschaften. Oder die Kinder, deren Ehe gerade in die Brüche ging.

Während der Musiker einen Schlussstrich unter seine Karriere zog und sich selbst vom Gesandten der Queen nicht für ein Konzert erweichen lässt, will sein Kumpel, der berühmte Regisseur, es noch einmal wissen und plant in der abgeschiedenen Bergwelt ein letztes Werk, das sein cineastisches Testament werden soll. Noch ahnt er nicht, dass seine Diva (umwerfend hysterisch: Jane Fonda), die er einst berühmt machte, ihm einen Korb geben wird, weil sie ein gut bezahltes Angebot in einer Seifenoper vorzieht.

Seinem Ruf als legitimer Fellini-Nachfolger wird Sorrentino einmal mehr gerecht. Mit visueller Eleganz bietet er ein Füllhorn grotesker Ideen und absurder Figuren. Sei es, dass der Komponist auf der Alm spontan ein paar Rinder zum Kuhglocken-Konzert dirigiert oder ein enorm übergewichtiger Diego Maradona mit übergroßer Karl-Marx-Tätowierung auf dem Rücken (gespielt von einem Doppelgänger) lässig Tennisbälle in die Luft kickt. Und dann tritt plötzlich auch noch Adolf Hitler auf, der die Sanatoriumsgäste im Frühstücksraum ebenso verschreckt wie das Kinopublikum – was sich als harmlose Kostümprobe eines hadernden Hollywood-Stars entpuppt.

Nicht alle waren begeistert, bei der Pressevorstellung gab es viele Buhs, das Premieren-Publikum bedankte sich für die famose Farce indes mit 17 Minuten Applaus. Große Hoffnungen galten dem Franzosen Jacques Audiard, der in „Dheepan“ von einem Tamilen erzählt, der mit Frau und Kind vor dem Bürgerkrieg nach Frankreich flüchtet. Das Trio kennt sich nicht, als vermeintliche Familie hofft man aber auf bessere Chancen beim Asyl. Während der Titelheld als Hausmeister im Wohnblock eines tristen Pariser Vorortes arbeitet, bekommt die Frau einen Job als Haushälterin beim lokalen Drogenbaron. Für die Neuankömmlinge kein leichter Start, der heimatlichen Gewalt sind sie entkommen, nun werden sie mit den täglichen Bandenkriegen konfrontiert.

Audiard will den abstrakten Flüchtlingsströmen aus den Nachrichten ein konkretes Gesicht geben, sie als Menschen mit Träumen und Werten zeigen. Gänzlich gelungen ist das Werk indes nicht. Seine Figuren bleiben blass und bieten zu wenig Raum für Empathie. Vor allem das Ende wirkt unbefriedigend. Der Ex-Soldat nimmt blutige Rache, die Familie flieht weiter nach England, wo ein wahres Asyl-Paradies wartet.

Preisverdächtig ist der Film allemal, schließlich muss sich der auffallend politische Trend im diesjährigen Wettbewerb auch in den Preisen widerspiegeln. Damit hat der ungarische „Son Of Saul“, der beeindruckend und schier unerträglich die Leidensgeschichte eines KZ-Häftlings erzählt, gute Chancen auf den Regie-Preis. Zweiter Schwerpunkt, wie so oft, waren Beziehungsprobleme, ob zwischen Paaren oder unter Familien. Da gehört die griechische Farce „Hummer“, in der sich liebesuntüchtige Singles in Tiere verwandeln, dank seiner innovativen Erzählweise ebenso zum Favoritenkreis wie die elegant inszenierte Lesben-Lovestory „Carol“, in der Cate Blachett und Rooney Mara an den muffigen Konventionen der 1950er Jahre scheitern. Das Damen-Duo liegt auch beim Schauspiel-Preis gut im Rennen, wenngleich die Konkurrenz dort so stark war wie lange nicht.

Bei den Filmen selbst blieb der ersehnte Wow-Effekt jedoch aus. Selbst der geplante Aufreger mit „Love“, einem Liebesfilm mit expliziten Sex-Szenen in 3-D von Enfant terrible Gaspar Noe, verpuffte nach dem großen Vorab-Wirbel kläglich. Eine denkbar dünne Story um einen Helden, der seiner Ex nachjammert, als Vorwand für einen Porno? Unisono durchgefallen! Doch solche Ausreißer waren selten. Der Wettbewerb überzeugte durch ein starkes Mittelfeld, was fehlte, waren die cineastischen Leuchttürme.

Den großen Coup konnte Cannes, diese „Pilgerstätte für die Gläubigen der Filmkunst“, wie André Bazin das Festival einmal nannte, nach allgemeiner Meinung nicht bieten. Der Ausgang der Jury-Wahl für Gold bleibt bis Sonntagabend spannend.

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