Neue Musik als Steinbruch und Baustelle: Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart sind ein Aktivposten des Festivals Eclat Foto: Martin Sigmund

Fünf Uraufführungen, 16 deutsche Erstaufführungen, eine breite Palette von Ideen, Stilen und Besetzungen, viele junge Komponisten: So endete das Eclat-Festival 2016.

Stuttgart - Wo ist die Musik? Liegt sie auf den Notenständern der Interpreten? Kommt sie aus den Instrumenten der Musiker, aus den Mündern der Sänger? Schwebt sie irgendwo in der Luft zwischen Bühne und Parkett, oder ist sie doch nur in den Köpfen der Zuhörer, von denen sich jeder seine eigene Musik aus den gehörten Tönen zusammensetzt?

Die spannende Frage, bei einer Podiumsdiskussion über das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Klang und Raum gestellt von der Komponistin Carola Bauckholt, blieb auch bei den Sonntagskonzerten des Festivals Eclat offen. Man kann sie von Stuttgarts Neue-Musik-Festival in diesem Jahr mit nach Hause nehmen – immerhin, denn musikalisch gab es nichts, von dem man spontan annehmen dürfte, dass es als große Kunst die Zeiten überdauern wird.

Dauer-Power mit enormer Energie: Dror Feiler

Interessantes begegnete einem allerdings in Hülle und Fülle. Vor allem das Ensemble Ascolta sorgte dafür. Zum Beispiel mit dem klangverliebten, klug konzipierten und fantasievoll instrumentierten Stück „Ucht“ der Ukrainerin Anna Korsun, das sich vom Geräusch zum Ton, vom Leisen zum Lauten, von der Tiefe zur Höhe entwickelt. Auch Bernd Eichmanns Ensemblewerk „Offener Vollzug“ mag intelligent gedacht sein. Schade nur, dass die im Programmheft länglich ausgeführten Umkreisungen des Spannungsfeldes von Musik und Politik nur ein maues klingendes Ergebnis zeitigen: „Offener Vollzug“ ist eine unstrukturiert und beliebig wirkende musikalische Collage.

Den laut lärmenden Werken des israelischen Komponisten Dror Feiler hat man eben diese Unstrukturiertheit oft vorgeworfen, und er selbst rechtfertigt sein Vorgehen etwa mit der Behauptung, ihn interessiere es eben, „von Unordnung zu noch größerer Unordnung zu gehen“. Feilers neues Ensemblestück „32° 43’ Nord 33° 31’ Ost/Den 10 gewidmet“ gibt sich allerdings trotz seiner dynamischen Dauer-Power als sehr klar gedacht, geformt und (unter anderem durch deutliche Pausen) gegliedert. Ein Aufschrei, ein Protest ist aber auch dieses Stück, das mit grellen Trompetentönen und harten (Gewehrsalven-)Trommelschlägen endet. Es zeigt Haltung. Und es hat Rückgrat – streng genommen besteht es wohl nur aus diesem. Ein ernster, wilder, eindrucksvoller Solitär.

Pianist mit Kindertröte, Sänger mit Melodikas

„Kiste“, ein Werk für (elektronisch erweitertes) Klavier solo (Florian Hölscher) des Rihm-Schülers Benjamin Scheuer, überzeugt durch seinen frechen spielerischen Zugriff. Der Pianist bringt live Gespieltes und auf diversen Kinderinstrumenten Getrötetes, Gerasseltes und Gepfiffenes in einen Dialog mit Klangfetzen vom Zuspielband, und am Ende hat man eine Art musikalischen Faschingsumzug erlebt, und Neue Musik mit Humor ist auf jeden Fall etwas sehr Besonderes.

Ob Boris Filanovsky ebenfalls lustig sein wollte, als er den Neuen Vocalsolisten bei seinem Stück „Endliche Musik“ Melodikas in die Hand drückte, in die sie zwanzig lange Minuten hineinblasen und-singen müssen, wissen wir nicht (denken aber heimlich an Loriots subversive Frage, ob Trompeter „auch mal praktisch in eine Geige blasen“ können). Man leidet nur unter schrecklicher Ödnis – und mag sich außerdem noch über das verschenkte Potenzial der exzellenten vokalen Spezialistentruppe ärgern.

Oszillierendes Klangband: Klaus Lang

Nach fein gearbeitetem Meditativ-Rückbezüglichem in Alberto Posadas’ „Tombeau & Double“ für Viola solo (mit dem großartigen Christophe Desjardins) endete das Festival beim „Attacca“-Konzert mit dem Radio-Sinfonieorchester des SWR mit wohl Geordnetem und gut Gemachtem. Den Beginn machte Klaus Lang mit einem Stück, das genau das bietet, was sein Titel verspricht: „viola.harmonium.orchester“ verbindet Klänge dreier Parteien zu einem oszillierenden Klangband aus Wiederholungen, Trillern, Tonleitern. Das flimmert flächig etwa eine Stunde lang vor sich hin. Wer sich vertieft, entdeckt hohe Kunstfertigkeit im Detail. Wer sich einhüllen lässt von den im Raum verteilten Klängen des Orchesters und der bewusst verdeckten Solisten, kann ins akustische Wachkoma verfallen. Oder einschlafen. Der Rest des Publikums mag Langs Forderung, dass Musik sich nicht dem Entwicklungsdiktat der Zeitkunst beugen, sondern durchaus auch mal nur Zustandsbeschreibung sein könne, empfinden wie Soße ohne Sättigungsbeilage. Oder wie ein in den zeitlosen Raum transportiertes Wagner’sches Waldweben, das, indem alles hier Begleitung wird, dem sonst Nebensächlichen den Ritterschlag verleiht.

In jedem Fall muss man dem Stück hohes kunsthandwerkliches Niveau bescheinigen, und dasselbe gilt auch für Sergej Newskis Versuch einer Rettung des Virtuosenkonzerts vom 19. in das 21. Jahrhundert (in „Ground Sound“ für Violine und Orchester). Dass Rebecca Saunders’ „Void“ vom Publikum besonders laut bejubelt wurde, lag wohl vor allem an den beiden findigen und wendigen Schlagzeug-Solisten Christian Dierstein und Dirk Rothbrust. Auf die Frage, wo denn bei ihnen die Musik sei, hätten diese beiden außerdem wohl eine schlichte Antwort gewusst: Die Musik ist in unseren Händen.