Die Musiker des Klangforums Wien Foto: Lukas Beck

Stuttgarts Neue-Musik-Festival Eclat ist mit der Verleihung des renommierten Kompositionspreises der Landeshauptstadt Stuttgart eröffnet worden.

Stuttgart - Hermann Reutter, Kompositionsprofessor und (von 1956 bis 1966) Rektor der Stuttgarter Musikhochschule, rief Ende der 1950er Jahre den Studenten Helmut Lachenmann zu sich, um ihn zu tadeln: „Herr Lachenmann“, schalt Reutter, „Sie sind dabei, Ihr wertvollstes Talent zu verschenken. Sie haben Rhythmus! In dieser Neuen Musik, da gibt es doch keinen Rhythmus!“

Zu lesen ist die nette Anekdote Lachenmanns, der 1968 beim 13. Kompositionspreis für sein Stück „Consolations I“ den zweiten Preis erhielt und heute als Aushängeschild Stuttgarts in Sachen Neuer Musik gilt, in einem Buch, das die Landeshauptstadt Stuttgart jetzt zum 60-jährigen Bestehen ihres Kompositionspreises, der ältesten und bis heute national renommiertesten Auszeichnung ihrer Art, herausgebracht hat (erhältlich beim Kulturamt Stuttgart und im Internet herunterladbar unter www.stuttgart.de/kompositionspreis). Am Donnerstagabend wurde mit der Verleihung des 60. Kompositionspreises an Michael Pelzel im Stuttgarter Theaterhaus das Eclat-Festival 2016 eröffnet.

Stuttgarts Kulturbürgermeisterin glänzt durch Abwesenheit

Über das preisgekrönte Werk des 1978 geborenen Schweizers kann man unterschiedlicher Meinung sein. Über die Preisverleihung selbst kann man es nicht. Als Vertreterin von Stuttgarts Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann, die auch bei diesem hochrangigen Kulturereignis durch Abwesenheit glänzte (schon dies ist einer Kulturstadt nicht würdig), nahm Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer die Ehrung vor – und wusste nicht einmal, wie man den (englischen) Titel des Preisträgerstücks, „Sempiternal Lock-In“ ausspricht. Peinlich. Stuttgart sollte eigentlich stolz sein auf seinen Preis, mit dem große Namen und Werke verbunden sind – und musste sich hier schämen.

Immerhin war das Zuhören beim Konzert dank der hohen Kompetenz von Musikern des Klangforums Wien (denen Fezer dafür gedankt hatte, dass sie „die besondere Mühe mit der zeitgenössischen Musik auf sich nehmen“) in der Summe lohnend.

Vertracktes und Hochvirtuoses

Das lag auch daran, dass es an diesem Abend, bei dieser Neuen Musik durchaus um Rhythmus ging. Dessen Vorherrschaft begann bei Michael Pelzels Kompositionslehrer Georg Friedrich Haas und dessen Stück „Anachronism“, das den motorischen Impetus der Minimal Music im 11/8-Takt regelmäßig ins Stolpern bringt. Harmonisch passiert nicht viel; so wie bei den großen Minimalisten sorgen Akkordwechsel ausschließlich für neue Farben im Spiel, hinzu kommen Halbtonleitern auf- und abwärts, und am Ende bleibt ein leiser Nachhall. Ein wirkungsvolles Stück, hinter dessen schlichter Fassade hohe Komplexität lauert.

Von harmonischen und (vor allem) rhythmischen und metrischen Wiederholungen der subtileren Art lebt Michael Pelzels „Sempiternal Lock-In“, und auch dieses Werk verbirgt unter seiner Oberfläche Vertracktes (und Hochvirtuoses), und wer sich einmal hineingehört hat in die fein ausgearbeitete Dramaturgie der Bewegungen und Gegenbewegungen, der gegeneinander verschobenen Metren, der muss sich um- und eingeschlossen fühlen von dieser Musik, die das Kunststück vollbringt, gleichzeitig fortzuschreiten und still zu stehen und die in einem klugen Kopf entstanden, aber doch auch Bauch-Musik ist.

Für einen wirkungsvollen Abschluss sorgte „Koffer“ des (auch dirigierenden) Enno Poppe: ein Stück, das gleichsam über die Öffnung unterschiedlicher Klangfarben-Schubladen zu instrumentalem Gesang findet – bis hin zu Passagen von fast nachromantischer Melancholie. Dreißig Minuten vergehen im Flug. Es muss, folgern wir, ein gutes Stück sein.