Tanzperformance zur Eröffnung des Europäischen Kultursommers. Foto: Patricia Sigerist

Der Europäische Kultursommer ist in der Alten Kelter feierlich eröffnet worden – mit Reden und exquisiten Auftritten von estnischen und finnischen Künstlern.

Fellbach - Es gibt, zumal bei der feierlichen Eröffnung eines Festivals wie des Europäischen Kultursommers, viele Bezüge und Gemeinsamkeiten mit Finnland und Estland aufzuzählen und zu würdigen. Die skurrilste wusste der Staatssekretär im Wissenschafts- und Kunstministerium und Landtagsabgeordnete Jürgen Walter am Freitag in der Alten Kelter beizutragen: „Man braucht mit der Fähre von Tallin nach Helsinki, den jeweiligen Hauptstädten, so lange, wie von Fellbach nach Stuttgart.“ Er fügte schnell hinzu: „Es kommt natürlich etwas auf den Verkehr an.“ Bei freier Fahrt über den finnischen Meerbusen hinweg wird die schnellste Verbindung mit 37 Minuten, ansonsten mit zwei Stunden angegeben. Der finnische Meerbusen ist an seiner schmalsten Stelle 50 Kilometer breit.

Ein schönes Dreiecksverhältnis

Obwohl durch die Ostsee getrennt sind die Gastländer dennoch untereinander und mit Deutschland bemerkenswert verbunden. Der Fellbacher Oberbürgermeister Christoph Palm wies darauf hin, als er das Rätsel um das nicht im Programm aufgeführte Eingangslied auflöste. Das Frauensextett Ketsurat, laut dem OB „die verkörperte Charmeoffensive“, sang die finnische Nationalhymne. Ihr estnisches Gegenstück verwendet die gleiche Melodie, komponiert von dem aus Hamburg stammenden Friedrich Pacius: „Zwei Hymnen auf dieselbe Melodie, die ein Deutscher geschrieben hat – ein schönes Beispiel für das Dreiecksverhältnis zwischen Finnland, Estland und Deutschland“, sagte Palm.

Eine herbe Sprachgrenze war aber am Freitag spürbar. Estnisch und Finnisch sind mit dem Ungarischen, nicht jedoch mit der indogermanischen Sprachfamilie verwandt. „Die Muttersprachen unserer Gäste blieben mir – schändlicher- und verständlicherweise – verschlossen“, beklagte OB Palm, der Gastgeber für hochrangige Gäste, darunter Urve Tiidus, die Kulturministerin der Republik Estand, und Kari Anttila, Staatssekretär im finnischen Ministerium für Bildung und Kultur. Das gilt auch für die andere Seite. Ob Politiker oder Künstler – nach Begrüßungsfloskeln wechselten die Redner bald in ein akzentgefärbtes Englisch. Aber Urve Tiidus stach heraus. Sie lobte in klarem, kaum gefärbtem Deutsch die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Gastland, die schon in drei Großveranstaltungen mit estnischer Kultur gemündet sei. Finnland hat laut Kari Anttila für die Rolle als Partnerland der Frankfurter Buchmesse herausgearbeitet, wie es wahrgenommen werden möchte: In Lesen und Lernen – man denke nur an das hervorragende Abschneiden bei der Pisa-Studie –, in der Erreichbarkeit von Bildung und Kultur sowie gesellschaftlicher Teilhabe ragt es tatsächlich heraus in Europa.

Kultur hilft, Brücken zu bauen und Vorurteile abzubauen

Dies kennen zu lernen und voneinander zu lernen, könne „in der Sphäre der Kultur Brücken bauen und Vorurteile abbauen“, sagte Oberbürgermeister Palm. Er erhielt viel Beifall für Sätze wie: „Und es passt, so meine ich, einfach nicht zusammen, wenn man einerseits eine multikulturelle deutsche Fußballmannschaft bejubelt und andererseits den Flüchtlingen aus kriegs- und bürgerkriegsgeschüttelten Regionen die fürs Überleben notwendige Hilfe nicht gewähren will.“ Mit unterschiedlichen Worten riefen alle Redner auf, im europäischen Geiste zu denken und zu handeln.

Kulturprogramm zur Eröffnung

Neben den feierlichen Reden hat das Eröffnungsfest des Europäischen Kultursommers einen Vorgeschmack auf die Kunst der Gastländer gegeben. Rasant spielte etwa das estnische Celloquartett C-Jam
auf und überraschte in dieser ungewöhnlichen Besetzung mit der durch Tina Turner bekannten Pophymne „The Best“. Status Quo’s „Whatever You Want“ fiel ebenso wie Boney M.s „Rasputin“ sehr wild aus.

Schwungvoll trugen die finnischen Frauen von Ketsurat
ihre Lieder vor, begleitet durch die Kantele, eine griffbrettlose Zither. In der Spielweise lehnten die Musikerin das Nationalinstrument an eine liedbegleitende Gitarre an. Dies verlieh ihren mehrstimmigen Vokalsätzen eine besondere Atmosphäre.

„Absolut Finland“ waren die Darbietungen des Straßentheaters Minimi
benannt. Über weite Strecken war der Auftritt des Duos zur eigenen fetzigen Rockmusik eine artistische Tanzperformance. Mit viel Selbsthumor griffen das Duo und der begleitende Saxofonist Finnland-Klischees auf. Da tanzen Rentier und Bär miteinander. Köstlich machten die beiden den Abscheu vor offenkundig nicht wohlschmeckenden traditionellen Speisen überdeutlich. Besonders witzig kam in der sowieso überheizten Alten Kelter die fahrbare finnische Sauna auf der Bühne rüber. Den OB, den Bürgermeister und den Staatssekretär in der ersten Reihe verbannten die Straßenmusiker frech nach hinten, holten Frauen nach vorne und stiegen – mit Handtuch bekleidet – unters Sauna-Zelt.

Das Mundharmonika-Quartett Sväng
aus Helsinki entlockte auf seinen kleinen Instrumenten rasante Läufe, wechselnde Harmonien und vielfältige Werke: einen Tango, Programmmusik und sogar Dixieland-Improvisationen.

Das Vokalensemble Heinavanker
trat außer am Freitag in der Alten Kelter auch am Samstag in der Lutherkirche auf: Fast 700 Jahre alte Messgesänge, weit weg von der vertrauten Harmonik, wechselten mit Gregorianik und geistlichen estnischen Volksliedern.