Viele Flüchtlinge dürften inzwischen ihre Familien nachholen – doch in der Praxis klappt das häufig nicht Foto: dpa

Sie sind nach Deutschland gekommen und in Sicherheit. Sie dürfen ihre engste Familie zu sich holen. Doch die Realität sieht anders aus. Ein Flüchtling in Stuttgart erzählt, was Familiennachzug tatsächlich bedeutet – jahrelange Wartezeiten im syrischen Bombenhagel.

Stuttgart - Arif (Name geändert) schaut auf ein Foto. Darauf ist sein neun Monate altes Töchterchen zu sehen. Das ist alles, was der 36-Jährige von seinem jüngsten Kind hat. Denn im Arm halten konnte er die Kleine noch nie. Sie kam wenige Wochen, nachdem der Syrer sich auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte, zur Welt. Er sei allein geflohen, sagt er, um seiner Frau und den drei kleinen Töchtern die gefährliche Reise zu ersparen. Um sie später auf einem sicheren Weg nachholen zu können. Seit einigen Wochen hat der Maschinenmechaniker seine Anerkennung. Er darf für zunächst drei Jahre bleiben und seine Familie zu sich holen. Eigentlich. Denn er wird noch lange alleine bleiben müssen.

„Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Ich denke immerzu an meine Familie“, sagt Arif in gebrochenem Deutsch. Er lebt in einer städtischen Unterkunft im Stuttgarter Westen, teilt sich das Zimmer mit einem Landsmann und hat die ersten Brocken der für ihn neuen Sprache gelernt. Doch das Schicksal von Frau und Kindern lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Antrag zur Familienzusammenführung ist längst gestellt, Ehrenamtliche unterstützen ihn dabei. Doch seine Frau muss dazu Visa für sich und die Kinder beantragen – in einer deutschen Auslandsvertretung im Nahen Osten. Da es in Syrien keine mehr gibt, müssen alle Betroffene in Nachbarländer. Und die deutschen Botschaften oder Konsulate dort sind heillos überfordert mit den vielen Anwärtern.

Einen Termin gibt es in 14 Monaten

Arifs Familie hat nach langem Warten inzwischen in der deutschen Botschaft im Libanon einen Termin zur Antragstellung bekommen. Ende September 2017. Nach dem Besuch in Beirut wird es, sofern alle notwendigen Papiere vollständig vorliegen, noch einige weitere Monate dauern, bis die Visa ausgestellt sind. Die Familie kann also mit einem Wiedersehen in knapp zwei Jahren rechnen. „Dieser Gedanke ist für mich unvorstellbar. Hier ist Frieden, dort ist Krieg“, sagt Arif verzweifelt.

Silvia Kundrat kennt solche Geschichten nur zu gut. Sie betreut für die Evangelische Gesellschaft die Unterkunft im Westen. „Solche Nachrichten stürzen die Väter in die Krise“, sagt sie. Rund 60 alleinstehende Männer aus sechs Nationen finden sich unter den 85 Bewohnern des Hauses. „Acht von ihnen sind verheiratet und haben ihre Familie noch im Herkunftsland. Dass Familien tatsächlich zusammengeführt worden sind, haben wir hier noch nie erlebt.“ Kundrat berichtet von hohen bürokratischen Hürden, von zahlreichen notwendigen Dokumenten – und davon, dass immer mehr Flüchtlinge subsidiären Schutz nur für ein Jahr bekommen und dadurch überhaupt keinen Anspruch auf Familiennachzug mehr haben. Viele seien deshalb verzweifelt: „Niemand konnte sich vorher vorstellen, dass alles so lange dauert und so bürokratisch ist.“

Syrische Familien müssen in Nachbarstaaten ausweichen

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, die Wartezeiten in den Auslandsvertretungen seien „unterschiedlich lang und hängen von verschiedenen Faktoren ab“. Gerade für die rund 500 000 Syrer, die seit vergangenem Jahr nach Deutschland gekommen sind, sei die Lage allerdings in der Tat schwierig. Weil es in Damaskus seit Anfang 2012 keine Botschaft mehr gibt, müssten betroffene Familien in die Türkei, den Libanon, nach Jordanien oder Ägypten ausweichen. Seit Mai habe nun auch das deutsche Generalkonsulat in Erbil im Norden des Irak seine Kapazitäten für die Bearbeitung von Visaanträgen ausgeweitet.

Man habe die Kapazitäten bereits massiv ausgebaut, heißt es in Berlin. „Wir sind uns der Lage der Menschen bewusst“, sagt ein Sprecher. So sei in Beirut in den vergangenen Jahren „unter schwierigen räumlichen und sicherheitsmäßigen Bedingungen das Personal der Visastelle annähernd verdreifacht“ worden. Derzeit sei man dabei, erneut zusätzliche Mitarbeiter dort einzubinden. Deshalb könne man wohl im Spätsommer bereits vereinbarte Termine vorverlegen. Es gebe aber für einen weiteren Ausbau enge Grenzen.

Helfer sollen die Familien auf die Antragstellung vorbereiten

Wie viele Anträge derzeit vorliegen, kann man in Berlin nicht sagen. Im vergangenen Jahr habe man in den deutschen Vertretungen im Nahen Osten rund 20 000 Visa für den Familiennachzug von syrischen Asylbewerbern ausgestellt. Im ersten Quartal 2016 sind es 7500 gewesen.

Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass man mittlerweile die Internationale Organisation für Migration (IOM) beauftragt habe, sämtliche Antragsteller für ein Familiennachzugsvisum vor dem Termin zu kontaktieren. Die Helfer sollen dafür sorgen, dass die Anträge vollständig sind und die Familien vorbereitet auf den Termin. Das soll das Verfahren beschleunigen – und nebenbei verhindern, dass unseriöse Agenturen den Leuten Geld abknöpfen, indem sie behaupten, sie seien zur Beantragung eines Visums zwingend nötig.

„Alle hier haben Angst um ihre Familien“, sagt Arif in dem kleinen Zimmer im Stuttgarter Westen. Derzeit sind Frau und Töchter bei einem Onkel in der Nähe von Damaskus untergebracht. „Aber auch dort ist jetzt der IS“, sagt der 36-Jährige. Und er fügt an: „Ich bin bereit, alles zu tun. Ich will Deutsch lernen, ich kann arbeiten – aber ich brauche meine Familie. So geht es uns allen.“

Hintergrund: Familiennachzug

In Deutschland anerkannte Flüchtlinge haben einen rechtlichen Anspruch auf Familiennachzug. Das bedeutet aber nicht, dass jeder entfernte Verwandte geholt werden kann. Der Anspruch umfasst Ehepartner und minderjährige, ledige Kinder des Asylberechtigten. Bei allein reisenden Flüchtlingen unter 18 Jahren können die Eltern nachkommen.

Genaue Prognosen darüber, wie viele Menschen das sein könnten, gibt es nicht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie das Auswärtige Amt gehen allerdings bei Syrern davon aus, dass für jeden in Deutschland anerkannten Flüchtling im Schnitt eine weitere Person nachkommen könnte. Angesichts aktuell mehrerer Hunderttausend Syrer handelt es sich daher um eine große Zahl.

Inzwischen gibt es deutliche Einschränkungen. So erhalten immer mehr Flüchtlinge, auch aus Syrien, seit März und der Verabschiedung des Asylpakets II nur noch den sogenannten subsidiären Schutz. Sie gelten damit nicht als persönlich verfolgt und dürfen zunächst einmal nur für ein Jahr bleiben. Für sie ist der Familiennachzug derzeit zwei Jahre lang ausgesetzt. (jbo)