Redaktionen drucken sehr gerne Leserbriefe ab –doch jetzt gibt es den Verdacht der Meinungsmanipulation. Foto: StN

Hacker oder Forscher: Irgendjemand verschickt vor der Bundestagswahl in großem Stil Leserbriefe an Zeitungsredaktionen. Die Spur führt zur Universität Köln – und endet vorerst dort.

Stuttgart - Annamarie Richter ist nicht nur eine multiple Person, sie vertritt auch verschiedene Meinungen – und teilt diese der Welt gerne mit: Im Vorfeld der Bundestagswahl sind unzählige nahezu gleichlautende Leserbriefe bundesweit verschickt worden – die sich inhaltlich widersprechen. Sie stammten stets von einer Annamarie Richter, nur dass sie mal in Stuttgart, mal in Schwäbisch Gmünd, mal in Köln und mal in Freiburg wohnt – und an vielen anderen Orten.

Es ist eigentlich ein netter Leserbrief, politisch interessiert, demokratisch motiviert: der einer besorgten jungen Mutter, die schreibt, sie könne „mit einer Regierung Schulz sehr viel zuversichtlicher in die Zukunft meiner Heimat und meiner Kinder schauen“. Nur schreibt sie an andere Redaktionen wortgleiche Varianten des Leserbriefes, bis auf die Passage, wer sie zuverlässiger in die Zukunft blicken lässt: Das ist dann nämlich auch mal die „Regierung Merkel“. Alle Briefe enden mit dem Satz: „Fair Play in der Berichterstattung für eine hohe Wahlbeteiligung!“

Vermutlich dachte „Frau Richter“, das dürfte niemandem auffallen, schließlich bekommt jede Redaktion ja nur einen Brief. Doch Annamarie Richter hat nicht mit den findigen und äußerst gut vernetzten Leserbriefredakteurinnen der Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung gerechnet. Die ersten zwei Mails waren manuell schnell gefunden, über weitere Recherchen fanden sich in befreundeten Redaktionen weitere Exemplare. Von der „Badischen Zeitung“ über den „Münchener Merkur“ und die „Schaumburger Nachrichten“ bis hin zur „taz“ – der Leserbrief ist republikweit abgedruckt worden.

Wer hat daran Interesse?

Was steckt hinter solcherlei Fake-Leserbriefen? Sind sie von einer Maschine verfasst, einem sogenannten Bot? Geht es darum, die öffentliche Meinung zu beeinflussen? Das alles vor der Bundestagswahl, das scheint eine gefährliche Mischung. Andererseits wird die öffentliche Meinung wenn überhaupt, dann sehr vielfältig beeinflusst: Mal wird Schulz, mal Merkel positiv bewertet und unterstützt – aber nie undemokratische oder populistische Parteien.

Wer hat daran Interesse? Erster Rechercheschritt: ein Anruf unter der angegebenen Handynummer, ein Spruch auf die Mailbox, eine Kurznachricht – doch das Handy ist stets aus. Schließlich eine Mail an die „liebe Frau Richter“ mit der Bitte, doch kurz anzurufen. Daraufhin kommt prompt eine Antwort: Sie sei gerade in Norwegen zum Wandern und schlecht zu erreichen. Gerne könne man in zwei Wochen reden. (Das wäre dann nach der Wahl gewesen. Guter Trick.)

Zweiter Rechercheschritt: Die IP-Adressen der beiden Mails führen zu Servern der Universität Köln. Mail an die „liebe ‚Frau Richter‘“: Es sind uns Unstimmigkeiten aufgefallen, die vielen Leserbriefe, verschiedene Wohnorte, der Uni-Server. Wir wüssten gerne mehr über die Motivation. Handelt es sich um ein Forschungsprojekt?

Auf einmal kommt Leben in die Recherche

Keine Reaktion mehr.

Selbst wenn es sich um ein Forschungsprojekt handelt: Ist das ethisch in Ordnung, die Öffentlichkeit zu Probanden zu machen, ohne sie zu informieren? Wird damit die öffentliche Meinung manipuliert?

Anruf bei der Pressestelle der Uni Köln: Von Ihren Servern werden Fake-Leserbriefe verschickt, wir hätten gern Auskunft darüber, wer so etwas macht. Klar, man kümmere sich darum. Funkstille. Erneute Anfrage: Wir würden jetzt dann einen Artikel schreiben. Soll darin wirklich stehen, dass sich die Universität Köln nicht um Fake-Leserbriefe kümmert, die von ihren Servern stammen?

Auf einmal kommt Leben in die Recherche: Der Leiter des Dezernats Kommunikation und Marketing der Uni Köln, Patrick Honecker, ruft an. Man könne die IP-Adresse keinem Rechner zuordnen, mutmaßlich handle es sich um einen der Poolräume, offene Computerräume für alle Studierenden. Der einzige Weg wäre, eine Kamera zu installieren, aber das verbiete der Datenschutz, zumal die Fake-Leserbriefe ja strafrechtlich nicht relevant seien. Sicher weiß Honecker nur eins: „Es gibt kein solches Forschungsprojekt an der Uni Köln.“ Da wäre er eingeschritten: „Solche Methoden finden wir nicht gut.“ Vielmehr vermutet er „eine Neurotikerin“ hinter den Briefen.

Gibt es ein reales Forschungsprojekt?

Es folgen zwei weitere Mails an „Frau Richter“ – keine Reaktion. Eine Mail an den Webmaster der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln, zu der jene IP-Adressen gehören. Vielleicht könne er – falls sich Frau Richter doch finden lasse – diese darum bitten, sich zu melden.

Tatsächlich meldet sich prompt jemand per Mail: „Frau Richter“, die diesmal gar nicht mehr so tut, als sei sie Frau Richter. „Wir melden uns gerne bei Ihnen, allerdings erst, wenn das Forschungsprojekt abgeschlossen ist“ – das sei in ein oder zwei Wochen der Fall. Aha, also doch ein Forschungsprojekt? Anruf beim Webmaster der Sozialwissenschaften: Konnte er diese IP-Adressen zuordnen? Der Ansprechpartner druckst herum. Es handle sich eher nicht um einen Pool-Raum, sondern wohl um einen eindeutigen Rechner, doch die Uni sei groß – oder Hacker seien am Werk gewesen. Aber was für eine Motivation sollte ein Hacker haben, bundesweit Leserbriefe zu verschicken? Darauf hat er keine Antwort. Die IT-Sicherheit sei das Einzige, was in seinem Zuständigkeitsbereich liege. „Wenn es sich um ein reales Forschungsprojekt handeln sollte, das aus irgendeinem Grund verschleiert bleiben soll, dann geht uns das gar nichts an.“

Zumindest ein Ergebnis des mutmaßlichen Forschungsprojekts kennen wir: Redaktionen drucken sehr gerne Leserbriefe ab. Und was hinter diesen steckt? In zwei Wochen wissen wir mehr.