Ein Bild aus guten Zeiten auf dem Grab von Tugce Albayrak Foto: dpa

Der Tod der 22-jährigen Tugce Albayrak bewegte Millionen Menschen. Am Freitag beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Der Fall scheint klar, das Urteil auch.

Darmstadt - Irgendwann erträgt sie seine Demütigungen nicht mehr: Hure, Nutte, Schlampe. „Halt endlich die Klappe, du kleiner Hurensohn“, zischt sie zurück. Dann eskaliert die Situation.

Ein Freund versucht noch, Sanel M. zurückzuhalten. Doch der holt aus und schlägt über die Arme seines Freundes hinweg zu, mit der flachen Hand. Trifft Tugce A.bayrak im Gesicht. Die junge Frau kann nicht reagieren. Ihr Körper fällt wie ein Baum zu Boden, der Kopf kracht auf den Asphalt. Sanel M. und seine Freunde rasen mit einem Auto davon. In einer Blutlache liegt Tugce leblos am Boden.

Fünf Monate ist die tödliche Auseinandersetzung auf dem Parkplatz eines Offenbacher Schnellrestaurants her. Ein nächtlicher Streit, an dessen Anfang Tugce zwei 14-jährige Mädchen vor Sanel M. und seinen Freunden beschützt haben soll.

Körperverletzung mit Todesfolge lautet die Anklage

Wegen ihrer Zivilcourage, die ihr offenbar zum Verhängnis wurde, nahmen Millionen Anteil am Schicksal der 22-jährigen Lehramtsstudentin aus Gelnhausen – während der zwei Wochen, die sie im Koma lag, mehr noch, als die Ärzte ihren Hirntod feststellen und sich die Eltern dazu entschließen, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen.

An diesem Freitag beginnt vor dem Landgericht Darmstadt der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Sanel M. ist wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Seit Mitte November sitzt er in Untersuchungshaft. Da bei dem 18-Jährigen noch das Jugendstrafrecht greift, liegt das Strafmaß im Falle einer Verurteilung zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft.

Unstrittig sind eigentlich nur die Augenblicke vor der Tat. Die stummen Mitschnitte einer Überwachungskamera zeigen die Schlichtungsversuche, den Schlag und den Sturz. Gegenüber der Polizei hat Sanel M. den Schlag eingeräumt. Auch was das Wortgefecht betrifft, decken sich die Zeugenaussagen weitgehend.

Insofern wird die Aufgabe des Gerichts vor allem darin bestehen, den Beginn der Auseinandersetzung und die Todesursache zu rekonstruieren. Wie genau hat sich der Streit hochgeschaukelt? Wer trägt die Verantwortung für die Eskalation? Woran ist Tugce gestorben? Und: War sich der alkoholisierte Sanel M. – 1,4 Promille zwei Stunden nach der Tat – der möglichen Folgen seines Schlages bewusst?

Anspannung vor dem Zusammentreffen

„Ich gehe nicht davon aus, dass er sich im Klaren darüber war, die junge Frau mit seiner Ohrfeige töten zu können“, sagt Stephan Kuhn. Lange hat der Frankfurter Strafverteidiger geschwiegen. Er hätte wohl auch kaum etwas zu gewinnen gehabt – zu groß sei die öffentliche Vorverurteilung seines Mandanten.

Ein paar Tage vor Prozessbeginn ist dem 38-Jährigen eine gewisse Aufregung anzumerken – dabei hat er als Anwalt im Münchener NSU-Prozess schon Erfahrungen mit großen Gerichtsverfahren. Am Nachmittag werde er Sanel M. noch einmal in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden besuchen, erzählt er. Sein Mandant sei sehr angespannt, das Aufeinandertreffen mit der Familie von Tugce belaste ihn. In der Untersuchungshaft habe Sanel M. Morddrohungen erhalten, ein Mithäftling habe ihm die Nase gebrochen.

Sanel M. träumte von einem Job bei der Post

Viel ist über den 18-Jährigen mit serbisch-montenegrinischem Pass nicht bekannt: in Offenbach geboren, zum Zeitpunkt der Tat arbeitslos, mehrfach vorbestraft. Kuhn kritisiert, dass viele Medien seinen Mandanten als perspektivlos abgestempelt hätten. „Wenn jeder vorbestrafte Jugendliche, der seit drei Monaten keinen Ausbildungsplatz hat, perspektivlos ist, dann sieht es schwarz aus in unserer Gesellschaft.“

Kuhn weiß, dass die Perspektiven seines Mandanten Einfluss auf das Urteil haben dürften. Schließlich soll das Jugendstrafrecht erziehenden Charakter haben. „Zwei Tage nach der Tat hätte mein Mandant ein Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungsplatz gehabt“, sagt Kuhn. Sanel M. habe von einem Job bei der Post geträumt.

Macit Karaahmetoglu, der als Anwalt der Nebenklage die Eltern von Tugce vertritt, zeichnet ein anderes Bild des Angeklagten. „Er hat eine gesteigerte subjektive Wahrnehmung und verfügt über eine geringe Empathiefähigkeit.“

Viermal in zweieinhalb Jahren verurteilt worden

Das Vorstrafenregister von Sanel M. unterstreiche das. Viermal sei er in den vergangenen zweieinhalb Jahren verurteilt worden: wegen versuchten Diebstahls, gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, gemeinschaftlichen Versuchs des Diebstahls in einem besonders schweren Fall sowie wegen gefährlicher Körperverletzung. „Er hat einem zehnjährigen, unbeteiligten Jungen das glühend heiße Metallteil eines Feuerzeugs in den Nacken gedrückt. Er habe es einfach so getan, ohne besonderen Grund, hat er hinterher der Polizei gesagt.“ Dafür saß er 2012 eine Woche im Jugendarrest.

Für Karaahmetoglu wäre es eine Katastrophe, sollte der Wiederholungstäter mit einer Bewährungsstrafe davonkommen – für die Familie ein Schlag ins Gesicht. Der Stuttgarter Rechtsanwalt ist längst ein Freund der Familie Albayrak, hat geholfen, wo er konnte. Unter anderem hat er einen Verein gegründet, um Kapital für eine Tugce-Stiftung zu sammeln.

Jetzt, da der Prozess beginnt, lastet die Hoffnung der Familie mehr denn je auf ihm. „Zum Glück gibt es das Video von der Überwachungskamera, sonst wäre vieles vielleicht im Dunklen geblieben“, sagt er.

Rund 60 Zeugen sowie zwei Gutachter werden aussagen

Zehn Verhandlungstage sind angesetzt. Rund 60 Zeugen sowie zwei Gutachter werden aussagen – darunter Freundinnen von Tugce, Freunde von Sanel M., Mitarbeiter des Schnellrestaurants, Rettungssanitäter – und bereits am Freitag die Mädchen, die Tugce beschützt haben soll.

Gab es tatsächlich eine Belästigung durch Sanel M. und seine Freunde? Wie genau mischte sich Tugce in den Konflikt ein? Drohte ihr Sanel M. in diesem Augenblick schon Gewalt an? Diese Aspekte werden darüber entscheiden, wie viel Verantwortung Sanel M. an Tugces Tod trägt und welches Urteil das Gericht über die tödliche Ohrfeige fällen wird.

Der Ort, an dem der Konflikt seinen Anfang nahm, liegt im Untergeschoss des Schnellrestaurants. Eine verwinkelte Treppe führt hinunter zu den Toiletten. Die Eingänge für Frauen und Männer liegen nebeneinander. Eine Glasscheibe in der Tür erlaubt den Blick in den Vorraum.

Möglich, dass Sanel M. und zwei Freunde den Mädchen zunächst helfen wollten, die betrunken auf dem Boden lagen. So behaupten es Freunde von Sanel M.. Tugces Freundinnen erzählen dagegen von Schreien, die zu hören gewesen seien – weswegen Tugce hinuntereilte, um zu helfen.