Fachkräfte gesucht: Doris Reichle und Massimiliano De Simone kochen gemeinsam. Seit Anfang Januar lebt der italienische Krankenpfleger in Gärtringen Foto: factum/Bach

Deutschland braucht Fachkräfte. Die Unternehmen suchen intensiv – auch im Ausland. Unsere Zeitung begleitet eine solche Anwerbung und die beteiligten Menschen ein Jahr lang. Heute: Das Leben in deutschen Gastfamilien ist ein spannendes Experiment

Stuttgart/Gärtringen - Auf dem Esstisch liegt ein kleines Büchlein. „Italienisch-Deutsch“ ist da zu lesen. „Das ist unser Notfallbuch“, sagt Detlef Reichle und lacht, „doch wir brauchen es immer seltener.“ Wenn mal wieder ein deutscher Begriff unklar ist, kommt es zum Einsatz. Beim Dialekt freilich hilft es auch nicht weiter. „Ich habe eine ganze Liste schwäbischer Begriffe“, sagt Massimiliano De Simone.

Seit Anfang Januar lebt der 33-jährige examinierte Krankenpfleger aus einem kleinen Ort in der Nähe der Adriaküste jetzt bei Familie Reichle in Gärtringen. Vier Monate dauert sein Vollzeitsprachkurs an der IB-Schule in Böblingen. Danach folgt für ihn und die 13 anderen Fachkräfte, die der Klinikverbund Südwest in Italien angeworben hat, die Praxis an den Kliniken in Böblingen, Leonberg und Sindelfingen, kombiniert mit weiterem Sprachunterricht. Während des Kurses sind die jungen Italiener in Gastfamilien untergebracht. So sollen sich die Sprachkenntnisse schneller verbessern.

Bei Massimiliano klappt das. Erstaunlich flüssig parliert er auf Deutsch. „Wir würden ja Eingewöhnungsprobleme schildern, aber wir verstehen uns prächtig“, sagt Gastvater Detlef Reichle. Am Esstisch trifft sich die Familie. Mit dabei sind Gastmutter Doris und Sohn Denis. Der 22-Jährige teilt sich mit Massimiliano eine eigene kleine Wohnung einen Stock höher. Dort war Platz, nachdem die beiden älteren Söhne ausgezogen sind.

"Ich hatte Sorgen - jetzt bin ich glücklich"

Die Familie hat zum ersten Mal einen Gast aus dem Ausland aufgenommen. „Man macht sich vorher schon Gedanken, wer da wohl kommt“, sagt Detlef Reichle. Das beruht auf Gegenseitigkeit. „Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, weil ich die Familie nicht kannte“, gibt Massimiliano zu, „aber jetzt bin ich glücklich. Und meine Familie in Italien ist es auch.“

Die Chemie stimmt. Man kocht gemeinsam, Massimiliano ist bereits bekannt für die zuckersüßen Torten, die er backt. Schnell haben er und Denis herausgefunden, dass sie beide Vegetarier sind. Bei Familientreffen ist der 33-Jährige ebenso dabei wie beim Faschingsumzug vor kurzem.

Und doch hätte er gerne noch mehr Zeit neben dem Sprachkurs, der jeden Tag acht Stunden dauert: „Das ist wirklich anstrengend. Ich würde gerne noch mehr lernen, aber wenn ich nach Hause komme, bin ich sehr müde“, erzählt der junge Italiener. Für seine Hobbys, etwa Snowboardfahren, Klettern oder Radfahren, war bisher noch keine Zeit. „Der einzige Sport ist Treppensteigen. Aber das macht ja einen knackigen Po“, sagt Massimiliano unter dem Gelächter seiner Gastfamilie.

Nicht bei allen hat es von Anfang an gepasst

Nicht bei jedem in der 14-köpfigen Gruppe hat alles von Anfang an gepasst. Zwei junge Frauen mussten die Familie wechseln. Die eine aus ganz praktischen Gründen: Die Busverbindung zur Sprachschule hat nicht geklappt. Paola D’Angelo hat aus eigenen Stücken darum gebeten, anderswo untergebracht zu werden. Die Chemie mit der Gastfamilie hat von Anfang an nicht gestimmt, sodass sie nach drei Tagen dort ausgezogen ist. „Da gab es einfach keine Gemeinsamkeiten“, weiß Massimiliano.

Grundsätzlich ist der Internationale Bund in Stuttgart-Vaihingen, der die Fachkräfte vermittelt und betreut, zufrieden mit der Unterbringung in deutschen Gastfamilien. „Gerade im Hinblick auf die Sprache stellt das eine erhebliche Förderung dar“, sagt Programmgeschäftsführer Gerardo Cardiello. Die Gruppe habe bereits zwei Leistungsermittlungen beim Sprachkurs hinter sich und dabei durchweg überdurchschnittlich abgeschlossen. Nach den beiden Wechseln zu Beginn laufe es jetzt auch in allen Familien sehr gut.

Gastfamilie wird ihn vermissen

Noch bis Mitte Mai dauert der Sprachkurs für die 14 jungen Italienerinnen und Italiener. Dann steht der Umzug in die Wohnheime der verschiedenen Kliniken an, in denen sie danach arbeiten sollen. Massimiliano wird nach Sindelfingen ziehen. „Ins Schwesternwohnheim“, frotzelt Gastvater Detlef Reichle und lacht. „Ich habe keine Angst davor“, sagt Massimiliano, „aber das wird schon eine neue Herausforderung. Ich bin dann auf mich selbst gestellt, muss alles alleine machen. Aber das ist gut, um die Sprache weiter zu verbessern.“ Das sei auch nötig, denn „sprachlich richtig interessant wird es wohl erst mit den Patienten“.

Die Gastfamilie, das ist schon sicher, wird den italienischen Zuwachs vermissen. Allerdings steht noch nicht fest, ob später ein Nachfolger das bald wieder freie Zimmer in der Wohnung bezieht. Trotz der guten Erfahrungen – oder vielleicht gerade deswegen. „Wir können uns das schon vorstellen, aber die Latte liegt jetzt hoch“, sagt Doris Reichle. Dass man es mit einem anderen Gast noch einmal so gut erwischt, kann sich in der Familie niemand so recht vorstellen.

„Alles läuft gut für mich“, sagt Massimiliano. Das kleine Notfallbuch auf dem Esstisch bleibt an diesem Abend unangetastet.

Hintergrund

StN-Projekt "Nordwärts"

Der Fachkräftemangel in Deutschland bringt viele Unternehmen dazu, auch im Ausland nach Personal zu suchen. Italien, Spanien, Portugal, aber auch Länder in Asien sind Ziele. Gebraucht werden Ingenieure, Erzieher, Pflegekräfte und viele andere Berufe.

Auf dem Markt tummeln sich inzwischen diverse Anbieter, die Kandidaten nach Deutschland vermitteln. Manche arbeiten seriös, andere nicht. Der Internationale Bund (IB), ein großer Anbieter aus dem Sozialbereich, hat sich auf die Anwerbung von Pflegekräften und Erzieherinnen in Italien spezialisiert. Dort gibt es viele studierte Fachkräfte, die trotz monate- und jahrelanger Suche keine angemessen bezahlte Festanstellung finden können.

Die Stuttgarter Nachrichten begleiten den IB und den Klinikverbund Südwest in Sindelfingen unter dem Titel „Nordwärts“ ein Jahr lang von der Kandidatensuche bis zur Anerkennung der Fachkräfte in Deutschland. Das Einleben in einem fremden Land, Sprachkurse, Arbeitserfahrungen und schließlich die Prüfung durch das Regierungspräsidium stehen in dieser Zeit auf dem Programm. Der Arbeitgeber und die 14 italienischen Pflegekräfte, die mittlerweile seit Anfang Januar in Deutschland leben, kommen regelmäßig zu Wort und schildern ihre Erfahrungen.

Derzeit sind die Fachkräfte während ihres viermonatigen Vollzeitsprachkurses in Gastfamilien untergebracht. Bisher sind alle Angeworbenen dabei geblieben.