Bei bis zu 80 Prozent der jungen Erwachsenen in Europa ist der Kiefer für die Weisheitszähne zu klein. Sie bleiben dann im Kieferknochen stecken. Foto: dpa

Etwa eine Million Weisheitszähne werden jedes Jahr in Deutschland entfernt. Es ist eine der häufigsten Operationen in der Zahnmedizin. Doch ob diese auch sinnvoll ist, darüber streiten Experten: Denn ein solcher Eingriff birgt auch Risiken.

Ingolstadt - Weisheitszähne sind überflüssig. Also raus mit ihnen. So hat man es oft von Zahnärzten gehört. „Inzwischen hat in diesem Bereich ein Umdenken stattgefunden“, sagt Kai Fortelka, Sprecher der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Einen Weisheitszahn ziehen, obwohl er keine Beschwerden verursacht – damit verursacht man nach neuen Erkenntnissen oft nur unnötige Schmerzen und Folgeschäden.

Dabei braucht der moderne Mensch eigentlich keine zusätzlichen Zähne mehr: Die Frühmenschen hatten noch große Münder mit weit vorgezogenen Ober- und Unterkiefern, die genug Platz boten, um mit kräftigen Zähnen auf Grünzeug und Körnern herumzukauen. Die Kopfform hat sich jedoch bis heute verändert: Der Mundraum ist kleiner, die Kieferleiste kürzer. Nur die Weisheitszähne, die letzten großen Backenzähne im Ober- und Unterkiefer, die entwickelt so mancher moderne Mensch heute noch. Teils lässt sich der Weisheitszahnkeim erst mit 14 Jahren auf dem Röntgenbild nachweisen, der Durchbruch erfolgt dann erst im Erwachsenenalter – oder nur halb oder auch gar nicht.

Teils drohen Karies, Entzündungen oder Zahnschäden

Ursache hierfür ist die Größe des Kiefers: Bei bis zu 80 Prozent der jungen Erwachsenen in Europa ist dieser zu klein. Die Weisheitszähne bleiben dann im Kieferknochen stecken. Das kann zu Entzündungen führen oder zu Schädigungen der benachbarten Zähne. Sind die Weisheitszähne nur halb durchgebrochen, kann sich auch Karies bilden, „ weil man sie beim Putzen schlecht erreicht“, sagt Christian Berger, Präsident der Bayerischen Landeszahnärztekammer.

Viele Zahnmediziner sehen zudem die Zahnstellung als gefährdet an: Aufgrund des Drucks, den die Weisheitszähne beim Durchbrechen ausüben, könnten die anderen Zähne nach vorne geschoben werden. Das würde dazu führen, dass die vorderen Schneidezähne zu eng stehen. Doch für diese Befürchtung gibt es bislang keine wissenschaftlichen Beweis. So heißt es in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde , dass dieses Thema „seit langem kontrovers diskutiert“ werde, aber nicht abschließend geklärt sei.

In England werden keine Weisheitszähne mehr vorsorglich entfernt

In Großbritannien hat diese Diskussion schon vor zehn Jahren ein Ende gefunden: Die vorbeugende Entfernung der Weisheitszähne ist dort aufgrund mangelnder Belege für einen Nutzen abgeschafft.

Auch in Deutschland mehren sich seitens Experten eher die kritischen Stimmen: Eine Zahnmedizinerin, die von rein prophylaktischen Zahn-OPs abrät, ist Ursula Hirschfeld, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie. Wird sie auf die Befürchtungen vor einer Fehlstellung der Zähne angesprochen, winkt Hirschfeld ab: Dass Zähne sich nach vorne schieben, sei etwas Natürliches. „Wenn die Weisheitszähne genügend Platz haben und gut stehen, gibt es auch keinen Grund, sie zu entfernen“, so Hirschfelder.

Doch wie viel Platz ist genug? Darüber scheint sich so mancher Zahnarzt im Unklaren zu sein – weil es eben auch an wissenschaftlich begründeten Richtlinien fehlt: „Die Datenlage ist relativ schwach“, sagt Andreas Waltering vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln. Daher rät so mancher eher zu einem Eingriff, als vielleicht notwendig wäre.

Eine Millionen Zähne werden in Deutschland jährlich herausoperiert

Etwa eine Million Weisheitszähne werden jedes Jahr in Deutschland entfernt. Es ist eine der häufigsten Operationen in der Zahnmedizin. Und das kann unter Umständen unangenehme gesundheitliche Folgen haben: So können Nerven im Mund geschädigt werden. Der Mundraum fühlt sich taub an – wenn auch meist nur vorübergehend. Die Operationswunden können sich entzünden.

„Bei prophylaktischen Eingriffen geht es immer darum, die Risiken abzuwägen“, betont daher auch der Kieferchirurg Wilfried Wagner von der Uniklinik Mainz. Ein wichtiges Argument ist auch das Alter. So sagt Hirschfelder: „Wenn die Weisheitszähne raus müssen, dann sollte das früh passieren.“ Bei Patienten, die jünger als 35 Jahre sind, ist die Komplikationsgefahr nämlich geringer.