Andreas Hellmann ist Vorsitzender des Bundesverbands der Pneumologen in Deutschland. Er sagt: „Feinstaub ist eine nicht beeinflussbare, unverschuldete Belastung und eine gigantische Herausforderung für die Politik, die dem Grundgesetz folgen und Schaden von der Bevölkerung abwenden muss.“ Foto: dpa

Im Vergleich zur Gefährdung von Feinstaub und Stickstoffdioxid hat das Rauchen „eine ganz andere Dimension“, sagt Dr. Andreas Hellmann, der Vorsitzende des Bundesverbands der Pneumologen in Deutschland. Dennoch dürfe die Politik nicht die Hände in den Schoß legen.

Stuttgart - An diesem Mittwoch beginnt der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie in Stuttgart. Wir sprachen mit dem Lungenfacharzt Andreas Hellmann über Risiken, den Wert eines Menschenlebens und Verkehrspolitik.

Herr Hellmann, an diesem Mittwoch beginnt der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie auf der Stuttgarter Messe. Hat die Feinstaubdiskussion die Lungenfachärzte hierher geführt?
Andreas Hellmann: Sicher nicht. Der Grund ist banal: Es gibt nur noch eine Hand voll Städte in Deutschland, die Kongresse in dieser Größenordnung überhaupt veranstalten können. Ich halte die Feinstaubdiskussion sicherlich für sehr wichtig, sie steht aber nicht im Zentrum der Pneumologie und der 3500 Fachleute, die zur Tagung kommen werden.

Appell für Tabakprävention an Schulen

Es ist nur eine einzige Veranstaltung zum Thema Luftverschmutzung durch Verkehr vorgesehen. Spielt diese Gesundheitsgefährdung etwa doch nur eine untergeordnete Rolle?
Wir haben begrenzte Ressourcen, und ich muss mich fragen: Nehme ich das Geld, erlasse Fahrverbote und bilde Polizisten aus, damit ich kontrollieren kann, dass keiner mehr nach Stuttgart reinfährt? Oder nehme ich das Geld, mache ein nachhaltiges Tabakentwöhnungs- und Präventionsprogramm für Stuttgarter Schulen, damit die Kinder und Jugendlichen mit dem Rauchen aufhören oder besser erst gar nicht anfangen? Wenn Sie beides abwägen, dann lassen Sie alle weiterhin nach Stuttgart reinfahren und kümmern sich um die jugendlichen Raucher. Das heißt nicht, dass ich mich um Feinstaub nicht kümmern muss, aber er steht nicht im Zentrum der Bemühungen der Lungenfachärzte.
Halten Sie die geplanten Fahrverbote in Teilen von Stuttgart trotzdem für gerechtfertigt?
Schon, wobei ich sie bei der bestehenden Rechtslage und den bestehenden weiteren Möglichkeiten für ein hilfloses Unterfangen halte. Es muss ein völliges Umdenken geben, was Mobilität betrifft.

Zahl der vorzeitigen Todesfälle ist entscheidend

Was macht Feinstaub denn so gefährlich?
Der Staub ist sehr fein, kann bis in die Lungenbläschen eindringen und ins Blut übergehen. Er verändert die Viskosität des Blutes, also die Fließeigenschaft, und kann Herzinfarkte auslösen. Das Umweltbundesamt rechnet auf Basis einer Statistik der Jahre 2007–2012 mit 40- bis 50000 Exzesstodesfällen pro Jahr der Feinstaubbelastung zu. Exzesstodesfälle sind vorzeitige Todesfälle. Davon sind 80 Prozent einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zuzuschreiben, aber nur 20 Prozent einer Atemwegserkrankung wie Lungenkrebs und Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD).
Als größter Feinstaubverursacher gilt der Verkehr. Der ist gewachsen, die Emissionen gingen deutlich zurück. Warum dominiert Feinstaub die Diskussion trotzdem?
Die Betrachtung der Luftschadstoffe verläuft in Phasen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es wegen der vielen Kaminöfen in London die erste große Smogkatastrophe mit 4000 Exzess-Toten pro Tag. Damals begann man über Gesundheitsgefahren von verschmutzter Luft nachzudenken. Diese „historischen“ Schadstoffe sind stark reduziert worden, jetzt haben die „automobilen“ Schadstoffe, wie NO2 und Feinstaub das Schwelfeldioxid und den groben Staub abgelöst. Das Problem, gerade in einem von der Automobilbranche geprägten Land wie Baden-Württemberg, ist die End-of-Pipe-Technologie. Man hat einen Schadstoff identifiziert, hat einen Filter erfunden und fröhlich weitergemacht. Damit haben wir den Effekt konterkariert durch die Zunahme des Verkehrs, und zweitens haben wir andere Schadstoffe übersehen. Feinstaub kann man ohnehin erst seit 15 bis 20 Jahren messen.

Grenzwerte sind seltener überschritten

Welche Rolle spielen Stoffe wie Blei, Schwefeldioxid und Ozon heute noch?
Blei hat keine Bedeutung mehr, weil seit geschätzt 25 Jahren kein Blei mehr im Benzin ist. Bei SO2 und Ozon wurden in den letzten zehn Jahren die Schwellenwerte im Vergleich zu den 90er Jahren viel seltener überschritten, aber beide Stoffe sind noch da.
Wie groß ist heute die Belastung mit Stickstoffdioxid?
Sie ist zurückgegangen, aber die Grenzwerte werden immer noch sehr oft überschritten. NO2 verursacht hauptsächlich Entzündungen an der Schleimhaut. Insbesondere jemand, der schon an Asthma leidet, den belastet eine hohe NO2-Konzentration zusätzlich, und auch die Asthmatikerrate in NO2-belasteten Gebieten steigt. Der Beweis, dass NO2 direkt Asthma verursacht, ist allerdings schwer zu führen. Wissenschaftlich bewiesen hingegen ist, dass eine hohe NO2-Belastung verbunden ist mit einer höheren Aggressivität von Pflanzenpollen.

25 000 Euro retten ein Lebensjahr

Wie groß ist denn nun die reale Gefahr der Luftschadstoffe im Vergleich zu anderen Risiken?
Das Raucherrisiko ist viel, viel höher. Nur ist Rauchen ein überwiegend selbstverschuldetes Risiko. Wer aber unten in der Stadt wohnt, kann nicht einfach auf die Höhenlagen umziehen. Luftverschmutzung ist Körperverletzung, während das Rauchen eine Art von Selbstverstümmelung ist. Der Zigarettenrauch hat 120000 Exzesstodesfälle pro Jahr zur Folge, dem Feinstaub werden 40000 zugerechnet. Feinstaub ist eine nicht beeinflussbare, unverschuldete Belastung und eine gigantische Herausforderung für die Politik, die dem Grundgesetz folgen und Schaden von der Bevölkerung abwenden muss.
Lassen sich Kosten quantifizieren?
Weltweit ist es üblich, die Zahl der vorzeitigen Todesfälle in verlorene Lebensjahre umzurechnen und für ein entgangenes Lebensjahr bei guter Gesundheit 25000 Euro anzusetzen. Ein Beispiel: Nehmen wir mal an, beispielsweise das Taxigewerbe soll seine Flotte umrüsten oder erneuern. Das kostet aber 100 Millionen Euro. Diese Kosten wird man als unangemessen hoch empfinden und warnen, dass Taxifahren dadurch viel teurer werde. Man kann aber auch hergehen und sagen: Der Einsatz von 25000 Euro rettet ein Lebensjahr – das ist es uns wert. In Deutschland hat man allerdings aus der Geschichte heraus ein Problem damit, Leben monetär zu quantifizieren.

Bei Kindern verursachen die Schadstoffe Asthma

Wie hoch ist die Gefahr für Kinder?
Bei Kindern ist die Asthma- und Bronchitishäufigkeit mit Daten belegt, und zwar seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir hatten 1989/90 gedacht, in Halle und Bitterfeld viele kranke Kinder zu finden, weil dort die Luft so schlecht ist. Stattdessen gab es dort weniger Asthmatiker als in München und Frankfurt/a.M. In der DDR lagen damals Schadstoffe aus den Braunkohlekraftwerken in der Luft, also Schwefeldioxid und Staub, und im Westen hatten wir es mit modernen Schadstoffen aus dem Auspuff und dem Bremsabrieb der Breitreifen zu tun. Man hat bei den Kindern in der DDR häufiger als in der BRD chronische Bronchitis gefunden, bei den Münchnern und Frankfurtern hingegen Asthma. Daraus entwickelte man die Hypothese: Schadstoffe aus dem Verkehr machen bei Kindern vermehrt Asthma. Diese Hypothese hat sich bestätigt.
Gibt es einen Grenzwert für Feinstaub und Stickstoffdioxid, der selbst für Kinder unbedenklich wäre?
Bei Feinstaub ist es wie mit allen potenziell krebserregenden Stoffen: Die Schädigung beginnt bereits bei minimalen Überschreitungen der Null-Linie. Deshalb kann es eigentlich keinen Grenzwert geben, sondern die Gesellschaft setzt einen Wert, unter den sie die Belastung senken will, in einer Art politischem Kompromiss, was Aufwand und Effekt betrifft. In Stuttgart mit seiner Kessellage, einem grünen OB, einem grünen Ministerpräsidenten und der Autoindustrie herrscht diesbezüglich eine hoch interessante Gemengelage. Jetzt schauen alle nach Stuttgart, denn hier wird sich entscheiden, wie wir in Zukunft mit dem Problem umgehen.
Müsste man Kinder besser als bisher schützen? Die ersten Eltern haben bereits Schadstoffmessungen an einer Schule gefordert, die direkt an einer der meist befahrenen Hauptstraßen in Stuttgart liegt.
Es wäre wohl nicht Sinn der Sache, dass Schulen nur noch im Grünen liegen, wohin womöglich keine Stadtbahn oder S-Bahn führt. Viele Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule, da ist es etwas pharisäerhaft, nun an den Schulen Luftschadstoffmessungen zu fordern. Allerdings sollte eine Schule auch nicht an einer Bundesstraße liegen.
Wie weit weg von einer viel befahrenen Straße muss ich wohnen, damit ich nicht mehr belastet bin?
Die Belastung nimmt mit Abstand zur Quelle relativ schnell ab. Da hilft schon eine Entfernung von 20 Metern.

Pneumologen dürfen Feinstaub nicht ignorieren

In Stuttgart scheinen sich selbst zwei Lungenfachärzte, Martin J. Kohlhäufl und Martin Hetzel, nicht einig zu sein über den Wert der Feinstaubdiskussion. Geht dieser Riss durch Ihre ganze Zunft?
Die Diskussion, die zwischen den beiden geführt wird – also um Panikmache oder vorsorgliche Warnung – ist eine politische. Es lassen sich ja für alle Lebensumstände Risikoprofile entwickeln, ob es nun um das Essen, um Luft oder Genussmittel geht. Die Gewichtung der Risiken wird zwischen Politik, Autofahrern, Industrie und vielen anderen ausgekartelt. Das Rauchen, da gebe ich Hetzel Recht, hat eine ganz andere Dimension, auch für die Allgemeinheit. Darüber regen wir uns schon seit 100 Jahren auf. Deshalb steht es heute noch im Zentrum der pneumologischen Erregung. Aber Feinstaub ist ein Umweltschadstoff, den wir nicht ignorieren dürfen. Wem hilft es, wenn wir feststellen, was alles gefährlicher ist als Feinstaub? Als Pneumologen müssen wir eine weitere Reduktion fordern.
Warum hat man die beiden Ärzte bei derlei unterschiedlicher Ansicht dann zu einem Tagungspräsidenten-Tandem zusammengebunden? Will man Frieden stiften oder beiden Standpunkten gerecht werden?
Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie hat das so entschieden, das war sicher nicht beeinflusst von einer vielleicht unterschiedlichen Position in einer Detailfrage. Die Pneumologie ist viel mehr als nur Feinstaub! Die Tagungspräsidentschaft eröffnet zudem die Möglichkeit, sich für weitere Funktionen in der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zu empfehlen. Sie bedeutet ein Jahr harte Arbeit, auch für zwei Tagungspräsidenten. Aber: Es ist tatsächlich ein Experiment, die ganze Pneumologen-Community schaut gespannt nach Stuttgart.