Joachim Löw macht sich viele Gedanken Foto: Getty

Bundestrainer Joachim Löw sprichtexklusiv über die alarmierende Rückkehr von Gewalt in Fußballstadien, den Neymar-Transfer, den Weg zur WM 2018, den härtesten Konkurrenzkampf aller Zeiten, die Pfiffe gegen Timo Werner und seinen besonderen Bezug zu Stuttgart.

Stuttgart - Joachim Löw kehrt an seine alte Wirkungsstätte zurück. Der Fußball-Bundestrainer mit VfB-Vergangenheit bereitet sich von diesem Dienstag an in Stuttgart auf die Länderspiele am Freitag in Prag gegen Tschechien und nächsten Montag in Stuttgart gegen Norwegen vor. „Ich erwarte, dass es den härtesten Konkurrenzkampf geben wird, den wir je erlebt haben“, sagt der 57-Jährige angesichts der großen Auswahl an Spielern für die WM 2018.

Herr Löw, wie war Ihr Sommerurlaub?
Sehr schön. Es war ruhig, entspannt, ich habe ein bisschen losgelassen. Das tat gut.
Schauen Sie sich im Urlaub Spiele an?
Im Urlaub bin ich immer froh über ein paar Wochen fußballfreie Zeit. Das einzige Spiel, das ich mir bewusst angeschaut habe, war der Supercup zwischen Dortmund und den Bayern. Die Qualirunden im Europapokal oder die Freundschaftsspiele der Bundesligisten habe ich ausgelassen.
Sie gehen in Ihr zwölftes Jahr als Bundestrainer. Freut man sich da noch auf Qualispiele gegen Tschechien und Norwegen?
Natürlich, die Vorfreude ist weiterhin riesig. Meine Motivation hat sich in den vergangenen Jahren vielleicht sogar noch etwas gesteigert.
Tatsächlich?
Nach einem Turnier gibt es immer einen emotionalen Abfall, da tritt nach ein paar Tagen eine Müdigkeit ein. Man möchte vom Fußball Abstand gewinnen – das war vor allem nach dem WM-Titel 2014 so, nachdem dem wir im Erfolg gebadet hatten. Trotzdem habe ich gerade seit Brasilien das Gefühl, dass die Mannschaft noch immer nicht an ihrem Limit ist. Das ist jetzt die große Herausforderung und der Reiz: den WM-Titel zu bestätigen, die Emotionen dieses Triumphs noch einmal zu haben. Wir können Historisches schaffen: Weltmeister, Confed-Cup-Sieger und noch einmal Weltmeister – das hat es noch nie gegeben.
Sie haben die Titelverteidigung schon frühzeitig zum großen Ziel erklärt, dem alles unterzuordnen ist. Unter welches Motto stellen Sie die letzten neun Monate vor der WM?
Ich erwarte, dass es den härtesten Konkurrenzkampf geben wird, den wir je erlebt haben. Zum einen haben wir sehr viele erfahrene Kräfte, die nach wie vor gewaltige Qualitäten haben. Zum anderen gibt es viele junge, hungrige Spieler, die unbedingt noch einen ganz großen Titel gewinnen wollen – und die beim Confed-Cup und der U-21-EM wichtige Erfahrungen sammeln konnten, von denen sie jetzt profitieren werden.
Ihre Auswahl scheint fast grenzenlos.
Zumindest seit ich dabei bin, war die Auswahl noch nie so groß. Als ich 2004 mit Jürgen Klinsmann bei der Nationalmannschaft angefangen habe, gab es keinen einzigen U-21-Nationalspieler, der in seinem Verein einen Stammplatz hatte, nicht einmal Bastian Schweinsteiger. Heute haben wir immer mehr junge Spieler, die in ihren Vereinen gefördert werden und Einsatzzeiten bekommen. Davon profitieren wir.
Den Nachwuchsleistungszentren sei Dank.
Die Talente sind technisch viel besser ausgebildet als früher und in ihrer Persönlichkeit viel reifer. Allerdings darf man auch nicht vergessen: die jungen Spieler, die den Confed-Cup gewonnen haben, sind noch nicht auf dem Weltklasseniveau, das man aber braucht, um den WM-Titel zu holen. Sie gehören noch nicht in die Kategorie Kroos, Messi, Ronaldo, Neymar. Das aber muss die Messlatte sein: die absolute Weltklasse!
Dennoch hat sich die Ausgangslage für einige der seit Jahren etablierten Spieler in diesem Sommer verändert. Die meisten Weltmeister waren im Urlaub, als der Nachwuchs beim Confed-Cup und der U-21-EM Furore gemacht hat.
Jeder Spieler muss Konkurrenzkampf spüren, auch wenn er schon einmal Weltmeister geworden ist. Wenn der nicht vorhanden ist, wird man einen solchen Titel nicht wiederholen können. Wir haben jetzt die willkommene Situation, einen Kreis von 35 bis 40 Spielern zu haben, die wir in den nächsten Monaten intensiv beobachten werden. Am Ende gibt es 23 Plätze im WM-Kader. Daher wissen auch die etablierten Spieler: Sie müssen immer an ihrem Leistungslimit spielen, um in der Mannschaft zu bleiben.
Geht das bei dieser Vielzahl an Spielen?
Es ist klar, dass auch mal ein schwächeres Spiel dabei ist. Worum es mir jetzt vor allem geht, ist die mentale Einstellung der Spieler. Trotz ihrer vielen Aufgaben in den Vereinen erwarte ich, dass sie von nun an die WM in den Mittelpunkt ihrer Gedanken rücken. Sie sollten sich jetzt schon darauf vorbereiten und nicht erst im nächsten Jahr beginnen, darüber nachzudenken. Die grundsätzliche persönliche Einstellung ist entscheidend: Wie lebe ich? Wie professionell bin ich in meinem Tagesablauf? Tue ich alles dafür, um mich ständig zu verbessern? Darüber müssen sich die Spieler an jedem Tag im Klaren sein. Jeder braucht einen klaren Plan, den er abarbeiten muss.
Die Topspieler wissen, wie sie damit umzugehen haben. Sonst wären sie gar nicht erst so weit gekommen und würden um Weltmeister- oder Champions-League-Titel spielen.
Müssen die deutschen Clubs im Kampf um die Champions League angesichts der irrwitzigen Investitionen in anderen Ländern nicht fürchten, den Anschluss zu verlieren?
Die Vereine müssen für sich selbst eine klare Strategie entwickeln. Grundsätzlich finde ich es wichtig und erfreulich, dass inzwischen viel mehr als früher in die Nachwuchsleistungszentren investiert wird und der Einbau von jungen Spielern nicht mehr nur eine Floskel, sondern ein echtes Ziel ist. Eine gute Ausbildung wird sich immer bezahlt machen. Aber natürlich brauchen Mannschaften wie die Bayern oder Dortmund daneben immer auch Verstärkungen und Impulse von außen.
Die Topspieler scheinen aber ohne die Hilfe von Scheichs oder anderen Milliardären nicht mehr finanzierbar. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass der Transfermarkt völlig aus den Fugen geraten ist?
Man muss das differenzierter betrachten. Dass man für Spieler, die den Unterschied ausmachen und die eine so unglaubliche Strahlkraft und Qualität wie Neymar besitzen, viel Geld bezahlt, ist für mich zunächst – unabhängig von der konkreten Summe – erst mal grundsätzlich nachvollziehbar.
Wir sprechen von einer Ablöse in Höhe von 222 Millionen Euro.
Wenn im Vertrag eines solchen Spielers steht, dass er für diese Summe gehen darf, muss man sich nicht wundern, dass einer kommt und das geforderte Geld auf den Tisch legt. Das Problem sehe ich eher darin, was aus einem solchen Transfer resultiert: Plötzlich kostet auch ein durchschnittlicher Spieler das Dreifache. Das führt dazu, dass der Markt völlig überhitzt.
Verstehen Sie Fans, denen angesichts solcher Entwicklungen die Lust am Volkssport Fußball vergeht?
Ich bin da gespalten in meiner Meinung und kann es auch noch nicht richtig einordnen. Zum einen ist es für viele Fans natürlich völlig unverständlich, dass für einen Spieler solche Unsummen bezahlt werden können. Auf der anderen Seite aber kommt Neymar nach Paris – und die Stadt steht Kopf. Er wird gefeiert wie ein König, und ganz Paris ist glücklich.
Wohin kann diese Entwicklung noch führen?
Im Fußball hat sich in den vergangenen Jahren im wirtschaftlichen Bereich unheimlich viel bewegt. Und diese Entwicklung wird weiter gehen. Auch wenn jetzt jeder glaubt, die Grenze sei erreicht, bin ich sicher, dass künftig noch mehr Geld in den Fußball investiert wird. Neymar ist nur der Anfang und noch lange nicht das Ende.
Der Fußball hat ein Alleinstellungsmerkmal, er ist eine Premiummarke und durch nichts zu ersetzen. Daher gibt es eine Vielzahl an Investoren, die künftig noch stärker in diesen Markt drängen werden. Denn sie sehen, wie viel Geld mit dem Fußball zu verdienen ist. Nehmen Sie das Beispiel Manchester United: Der Club hatte in den letzten Jahren sportlich sicher nicht seine stärkste Phase, trotzdem ist sein Wert immens gestiegen. Daher bin ich auch ganz sicher: Der Preis für die Fernseh- und Vermarktungsrechte wird sich weiter erhöhen.
Und der Fan braucht mehrere Pay-TV-Abos und einen Terminkalender, um bei den vielen unterschiedlichen Anstoßzeiten den Überblick zu behalten.
Das ist die große Herausforderung: wie nimmt man bei dieser Entwicklung den Fan mit? Die Emotionalität der Fans darf auf keinen Fall verloren gehen, denn davon lebt der Fußball.
Wie kann das gelingen?
Das bedeutet viel Arbeit in den Vereinen und in den Verbänden. Deshalb ist es auch so wichtig, dass auch weiterhin in den Nachwuchs investiert wird. Denn neben Superstars wollen die Zuschauer vor allem eines: Identifikation mit eigenen Spielern. Dadurch entwickelt sich zwischen Verein, Team und Fans eine viel größere Nähe.
Immer größer wird bei vielen Fans hingegen die Distanz zum DFB und der DFL, die in den Ultrakreisen endgültig zu den großen Feindbildern geworden sind. Wie gefährlich sind diese Tendenzen?
Wenn dem DFB auf Plakaten der Krieg erklärt wird, dann geht das weit am Ziel vorbei. Solche Begriffe haben im Fußball nichts verloren. Das geht gar nicht, und dafür habe ich null Verständnis. Ich halte es für bedenklich, was gerade alles vor der Tür des DFB abgeladen wird, das ist nicht immer fair, der DFB tut so viel Gutes für den Fußball. Man kann sich über alles unterhalten, aber man sollte sachlich und differenziert bleiben. Und die Kommunikation wurde dieser Tage ja gerade von DFB-Präsident Reinhard Grindel auch angeboten – das ist der richtige Schritt, jetzt liegt der Ball auf der anderen Seite.
Glauben Sie ernsthaft an einen konstruktiven Dialog?
Ich frage mich schon, ob die andere Seite das überhaupt ernsthaft will. Ich fürchte eher, dass es einer bestimmten Gruppe eher darum geht, Krawall zu machen. Sie missbrauchen die Bühne des Fußballs. Diese Gewalt, die in den Stadien wieder eingekehrt ist, ist ein großes Problem und eine Gefahr für den Fußball. Sie muss mit allen Mitteln unterbunden werden. Denn eines muss gewährleistet sein: Dass sich die Zuschauer im Stadion sicher fühlen. Wer sind denn die Fans? Nur die paar Chaoten, die das mit Spruchbändern und beleidigenden Parolen für sich in Anspruch nehmen? Nein, die Fans sind wir alle. Familien mit ihren Kindern genauso wie der Bankvorstand. Das macht ja die Faszination des Fußballs aus: Er verbindet.
Die Wut vieler Fans wird nicht nur beim DFB abgeladen, sondern auch bei einem Ihrer Spieler: Timo Werner, der seit seiner Schwalbe gegen Schalke 04 als Buhmann herhalten muss. Haben Sie eine Erklärung für die Heftigkeit der Reaktionen?
Nein. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Er ist ein junger Spieler, der einen Fehler gemacht und sich dafür entschuldigt hat. Die Pfiffe und die Schmährufe finde ich respektlos.
Beim Länderspiel in Stuttgart könnte sich das wiederholen.
Das will ich nicht hoffen. Und da schätze ich das Stuttgarter Publikum auch als sehr fair ein. Es geht nicht, einen Stürmer, der für Deutschland spielt und nachweislich auch schon wichtige Tore erzielt hat, derart an den Pranger zu stellen. Damit muss Schluss sein. Timo hat die Pfiffe nicht verdient, zumal er ein Topprofi ist, der sich mit seinen Vereinen immer voll identifiziert hat. Jetzt in Leipzig ebenso wie davor in Stuttgart. Wir können froh sein, so einen Stürmer in Deutschland zu haben, an ihm werden wir noch viel Freude haben.
Timo Werner hat beim VfB seine Profikarriere begonnen, Sie Ihre Laufbahn als Trainer. Haben Sie in den vergangenen Jahren mitgelitten, als es mit dem Verein immer weiter bergab ging?
Natürlich. Ich habe noch immer einen besonderen Bezug zum VfB. Ich war in den 80ern als Spieler dort und später als Trainer. Ich habe den Club nie aus den Augen verloren und mich über den Wiederaufstieg sehr gefreut. Der VfB gehört in die Bundesliga. Der Zuschauerrekord in der zweiten Liga hat gezeigt, wie sehr die ganze Region am VfB hängt. Und als ich jetzt den Kader für die beiden Länderspiele nominiert habe, habe ich wieder einmal festgestellt, wie viel vom VfB auch in der Nationalmannschaft steckt.
Neben Ihnen Ihre beiden Assistenten Thomas Schneider und Marcus Sorg, dazu Bernd Leno, Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich, Sami Khedira, Sebastian Rudy, Serge Gnabry, Mario Gomez, Timo Werner. Macht in Summe elf Mann mit VfB-Vergangenheit.
Vielleicht sollten wir beim Spiel gegen Norwegen in Stuttgart-Trikots mit einem roten Brustring unter dem Bundesadler tragen (lacht).