Die evangelische Stiftskirche ist Stuttgarts älteste und größte Kirche in der Innenstadt Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Zwischen dem vergangenen und diesem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart liegen 16 Jahre. Seither treten pro Jahr rund 1500 Protestanten aus der Kirche aus. Kein Grund für die Gemeinden, die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil: Sie öffnen sich mehr denn je.

Stuttgart - Ein fünf Meter hoher Salzberg am Schlossplatz war das Wahrzeichen des 28. Deutschen Evangelischen Kirchentags 1999. Das Motto lautete: „Ihr seid das Salz der Erde“. Das Salz der Erde hat ich in den vergangenen Jahren verringert. Statt wie damals 187 362 Mitglieder hat der Evangelische Kirchenkreis in Stuttgart nur noch 155 555 Zugehörige. Allein im vergangenen Jahr schrumpfte die Zahl um 3149 Menschen. Die katholische Konkurrenz büßte mit 1612 Mitgliedern nur die Hälfte ein.

Dass es weniger Protestanten in Stuttgart gibt, hat Stadtdekan Søren Schwesig auch bei den Vorbereitungen zum Kirchentag bemerkt: Es hat länger gedauert, genügend Helfer zusammen zu trommeln. Und es war ein Kraftakt, die 10 000 privaten Schlafplätze für Kirchentagsbesucher zu finden. Der Rückgang der Mitglieder, das ist Schwesig wichtig, liegt aber nicht nur an den Austritten. Mit der Kirche gebrochen haben von den seit 1999 weggefallenen 31 807 Mitgliedern zwar 22 429 Menschen. Die übrigen 9382 sind verstorben oder weggezogen.

Trotz des Einbruchs will sich der Evangelische Kirchenkreis in Stuttgart nicht beleidigt zurückziehen. „Wir haben den Anspruch, in die Stadtgesellschaft hinein zu wirken“, sagt Schwesig. Symbol dafür ist der 23 Millionen teuren Umbau des Bildungs- und Veranstaltungszentrums Hospitalhof. Damit hat sich die Gesamtkirchengemeinde ein Flaggschiff mit Strahlkraft über die Stadt hinaus geleistet.

Die Themen, die innerhalb der evangelischen Kirche diskutiert werden, haben sich seit den 80er und 90er Jahren allerdings verändert. Stand damals die politische Friedensbewegung als Nachhall des NATO-Doppelbeschlusses stark im Fokus, ist jetzt interreligiösen Dialog zwischen Juden, Muslimen und Christen. Nicht mehr gestritten wird über das Thema Abtreibung, „obwohl die Ansichten noch unterschiedlich sind“. An die Stelle ist die Diskussion über die Sterbehilfe, den Umgang mit Homosexualität und die in Stuttgart besonders dringliche Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen getreten. „Unsere Diskussionen ist ein Spiegel dessen, was die Menschen beschäftigt“, sagt Schwesig.

Weniger Mitgliederzahl bedeutet: weniger Geld und immer mehr leere Gotteshäuser. Mit gut 23 Millionen Euro gegenüber knapp 23 Millionen Euro vor 16 Jahren sind die Einnahmen durch die Kirchensteuer relativ konstant geblieben. Inflation, gestiegene Betriebskosten und Löhne zwingen dennoch zum harten Sparkurs. Ansatz war der Verkauf von Gebäuden Die evangelische Kirche in Stuttgart hat laut Schwesig als erste Kirche in Württemberg ein Immobilienkonzept entwickelt. Für die Protestanten in der Stadt bedeutet das, dass sie zusammenrücken und teilen müssen. Viele Gebäude sind für die Gemeinden zu groß geworden und veraltet“, sagt Christoph Schweizer, Sprecher des Evangelischen Kirchenkreises Stuttgart.

In den vergangenen Jahren wurden zehn Gemeindehäuser und drei Kirchen verkauft. „In allen Fällen ist es uns gelungen, für die Gemeinden Ersatz zu finden“, sagt Schweizer. Zum Teil wurden verkaufte Gebäude zum Beispiel wieder angemietet oder in Kirchen wurden Räume für die Gemeinde eingebaut. In die Föhrichkirche in Feuerbach ist die russisch-orthodoxe Gemeinde mit eingezogen, in die Friedenskirche die koreanische Gemeinde. Die Waldkirche im Westen hat eine Gemeinde aus Ghana aufgenommen. „Wir tun uns heute damit leichter als vor 16 Jahren Türen zu öffnen“, so Schwesig

Teilen müssen sich die Gemeinden auch die Pfarrer: War Stuttgart 1999 mit 153 vollen Pfarrstellen noch überversorgt, kümmern sich jetzt nur noch 113 Pfarrer um das Seelenheil ihrer Schäfchen und betreuen oft mehr als eine Gemeinde. Das sei wegen der geringeren Mitgliederzahl kein Problem, sagt Schweizer und sieht in der Kooperation von Gemeinden große Vorteile. „Dadurch, dass zum Beispiel Hedelfingen, Wangen und Rohracker ihre Chöre zusammengelegt haben, gibt es jetzt statt drei stimmschwache Chöre einen starken Chor.“

Stadtdekan Schwesig sieht die Entwicklung ebenfalls als Chance. Vor 16 Jahren sei nicht über Gottesdienstformen nachgedacht worden. Heute wird danach gesucht. Denn die Leute gehen nicht mehr in die Kirche in ihrer Gemeinde. Sie gehen dorthin, wo sie sich mit ihren Bedürfnissen und Interessenaufgehoben fühlen. „Zulauf haben zum Beispiel spezielle Familiengottesdienste. Der Jesustreff mit viel rockiger Musik in der Martinskirche und Gospel im Osten bringen 400 bis 500 Besuche.“ Was Schwesig bedauert: das früher das Wissen darüber, was die Kirche leistet, größer war. Seine Konsequenz : die Bescheidenheit ein Stück weit aufgeben und Werbung für die Arbeit der Kirche zu machen. „Dabei muss immer klar sein, wohin unser Geld fließt.Transparenz hat an Bedeutung gewonnen“ stellt Schwesig fest.

Wenn in elf Tagen in Stuttgart der 35. Evangelische Kirchentag startet, heißt das Motto: „Damit ihr klug werdet“. Das Erkennungszeichen diesmal sind sieben fünf Meter hohe Bäume der Erkenntnis. Aufgestellt werden sie an unterschiedlichen Veranstaltungsorten. Neue Erkenntnisse und Impulse für seine kirchliche Arbeit: Die erhofft sich auch Stadtdekan Søren Schwesig vom Kirchentag. Stuttgart und den Kirchentagsbesuchern wünscht er, dass die Begeisterung auch über die fünf Tage hinaus anhält und im Alltag nachhallt.