Der Gerichtshof in Straßburg ist für viele die letzte Chance Recht zu bekommen. Foto: StZ

Angelika Nußberger ist die erste Deutsche in der dreiköpfigen Führung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die stellvertretende Präsidentin sieht Abschiebungen in Länder kritisch, in denen Folter droht. Jeder Einzelfall müsse genau geprüft werden.

Straßburg - In einem auseinanderstrebenden Europa ist der Menschenrechtsgerichtshof wichtiger als je zuvor, sagt dessen stellvertretende Präsidentin Angelika Nußberger. Gleichwohl ist das Gericht nicht vor einer möglichen Austrittswelle gefeit.

Frau Nußberger, die wohl größte Aufmerksamkeit für das Gericht hat es 2015 gegeben, als Amal Clooney dort plädiert hat. Fühlen Sie sich auch dann beachtet, wenn kein Hollywood-Glanz im Gerichtssaal strahlt?
Der Fall, bei dem Frau Clooney als Anwältin der armenischen Regierung auftrat, war auch als Fall sehr spannend. Es ging um die Leugnung des Genozids an den Armeniern in der Schweiz – konkret darum, inwiefern dies von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Aber in der Tat, aufgrund von Frau Clooney kam noch mehr Publikum. Wir können uns aber nicht über mangelndes Interesse beklagen. Der Gerichtssaal ist meistens voll.
Wie fühlt man sich als Hüter der Menschenrechte in Europa mit Blick auf Staaten wie Russland, die Türkei, Polen oder Ungarn?
Man hat das Gefühl, dass die ursprüngliche Idee nun wichtiger ist als je zuvor: Einzelne Bürger sollen Menschenrechtsverletzungen vor ein europäisches Gericht bringen können. Es gilt zu verhindern, dass Staaten in undemokratische oder gar autoritäre Herrschaftsformen abgleiten und die Rechte des Einzelnen nicht mehr zählen. Ob wir letztlich aber wirklich viel bewirken können, wenn kein entsprechender politischer Wille da ist, ist eine andere Frage.
Die EU ist ziemlich zerstritten, da sind nur 28 Länder vertreten. Am Gericht arbeiten Richter aus 47 Nationen. Funktioniert das ?
Selbstverständlich sind die Kulturen, die im Europarat zusammengefügt werden, sehr unterschiedlich. Aber wir haben die Europäische Konvention für Menschenrechte als gemeinsame Klammer. Dazu kommt eine lange gemeinsame Tradition bei der Auslegung dieser Rechte.
Sie halten die Gemeinsamkeiten hoch, aber wie groß sind die Differenzen bei der Auslegung?
Die gibt es natürlich. Wenn es etwa um Familienrecht geht, dann stellt sich zum Beispiel die Frage, was eine Familie ist und wer dazugehört. Wie ist das etwa mit Samenspendern? Manche Entscheidungen des Gerichts ergehen mit 9:8 Stimmen, da gibt es schon sehr unterschiedliche Standpunkte. Vor allem bei bioethischen Fragen ist das besonders sichtbar.
Das Bundesverfassungsgericht wird in diesem Jahr über die Sterbehilfe verhandeln. Was sagt Straßburg zu diesem Thema?
Wir hatten vor etwas mehr als zwei Jahren einen Fall, der in Deutschland kaum beachtet wurde, der aber ganz Frankreich bewegt hat. Ein junger Mann lag nach einem Motorradunfall im Koma. Nach Jahren wollte ein Teil der Familie die Geräte abschalten, ein anderer Teil nicht. Es war eine echte Familientragödie, die in Frankreich durch alle Instanzen ging. Der oberste Gerichtshof des Landes war dann der Ansicht, dass die Geräte abgeschaltet werden dürfen. Daraufhin sind die Eltern des Mannes zu uns gekommen.
Und wie hat Straßburg entschieden?
Der Gerichtshof hat geurteilt, dass es nicht seine Rolle sein könne, die Frage über Leben und Tod selbst an sich zu ziehen. Er kann nur gewährleisten, dass die Rechte aller Betroffenen beachtet und geschützt werden und, so weit als möglich, der Wille des Betroffenen berücksichtigt wird. Wenn Experten in einem rechtsstaatlichen Verfahren alle Optionen sorgfältig prüfen und dann eine medizinisch vertretbare Entscheidung treffen, genügt das der Konvention. Allerdings haben das fünf der 17 Kolleginnen und Kollegen ganz anders gesehen.
In Deutschland wird die Abschiebung von Flüchtlingen diskutiert. Sie lehnen das klar ab, wenn in den Ländern Folter droht. Steht da ein Konflikt ins Haus?
Das können wir nicht ausschließen. Kritisch sind sicher Abschiebungen in Länder wie den Irak und Afghanistan. Man muss sich jeden Einzelfall sehr genau ansehen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Lage vor Ort und auch die Informationslage sehr schnell ändern. Länder können übrigens auch dann in den Fokus geraten, wenn für bestimmte Gruppen von Abzuschiebenden, etwa Homosexuelle, konkrete Gefährdungen bestehen.
Schauen wir über die Grenzen. Mit Russland hatten sich Probleme abgezeichnet, sind sie jetzt da?
In der Tat. Das russische Verfassungsgericht hat jüngst eine Entscheidung in der Angelegenheit Yukos getroffen. Darin sagen die Kollegen, dass es unmöglich sei, ein Urteil von uns umzusetzen, weil dies gegen russisches Verfassungsrecht verstoße. Das schafft große Probleme, weil unsere Entscheidungen völkerrechtlich verbindlich sind; da kann es kein Rosinenpicken geben.
Wie geht es nun weiter?
Die Vollstreckung ist in erster Linie kein Problem des Gerichtshofes, sondern des Europarats als Ganzem. Das Ministerkomitee hat dafür Rechnung zu tragen, dass Entscheidungen umgesetzt werden.
Russland setzt Urteile nicht um, die Türkei liebäugelt mit der Todesstrafe, und Großbritannien droht damit, die Konvention zu kündigen. Steht der Gerichtshof vor einer Austrittswelle?
Ich hoffe nicht, aber leider ist es auch nicht auszuschließen. Im Vertrag ist das Recht eines Austritts vorgesehen. Bisher war das für niemanden eine Option. Keine Regierung möchte ihren Bürgern erklären, dass man sich nicht mehr an Menschenrechte gebunden fühlt. Andererseits ist die Gefahr, dass es einen Dominoeffekt geben könnte, wenn ein Staat wie die Schweiz den Anfang macht. Dort wird gerade an einem Referendum gearbeitet, wonach nationales Recht über dem Völkerrecht stehen soll.
Bei all diesen Problemen: Die meisten Fälle kommen aus der Ukraine zu Ihnen. Warum?
Da muss man die Hintergründe genau ansehen, die in der Statistik zu Buche schlagen. In der Ukraine ist es ein Dauerproblem, dass rechtskräftige Urteile nicht vollstreckt werden, insbesondere nicht gegen den Staat. Hinter diesen unerfüllten Forderungen steht oft, dass den Bürgern etwas versprochen wird, ohne dass dafür ein Budget zur Verfügung stünde. Zum Beispiel bei Leistungen für die Menschen, die in Tschernobyl im Einsatz waren.
Wenn man in der Ukraine schon nicht auf die nationalen Gerichte hört, hört man dann auf Straßburg?
Das Land strebt nach Europa und bemüht sich sehr, vielleicht sogar mehr als manche andere Länder, für die von uns angemahnten Probleme Lösungen zu finden. Aber so wichtig auch der gute Wille ist, er allein ist noch keine Garantie dafür, dass dann alles funktioniert.


Die Kölner Rechtswissenschaftlerin Angelika Nußberger ist soeben von ihren Kollegen als erste Deutsche ins Führungstrio des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gewählt worden. In Straßburg ist die Kölner Lehrstuhlinhaberin seit 2011 als Richterin tätig. Die Juristin ist mit Stephan Nußberger verheiratet, der in Stuttgart an der Universität Biophysik lehrt.


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingerichteter Gerichtshof mit Sitz in Straßburg. Er überprüft Akte der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in Bezug auf die Verletzung der Konvention in allen Unterzeichnerstaaten überprüft. Der EMRK sind alle 47 Mitglieder des Europarats beigetreten. Weißrussland und der Vatikan sind die einzigen Länder Europas, die nicht im Gerichtshof vertreten sind.