Strafzettel ausstellen ist einfach, in Ausland zustellen dagegen nicht Foto: dpa

Seit 2010 sollen Bußgelder EU-weit vollstreckt werden. Theoretisch. Praktisch kommen viele Sünder davon.

Stuttgart - OWI 21 nennt sich das Programm, das laut Hersteller „Garant für eine schnelle und effiziente Erledigung der Aufgaben im Ordnungsamt“ sein soll. Tatsächlich ist OWI 21 (OWI für Ordnungswidrigkeit) ein Computerprogramm, auf das Peter Rothfuss seit über einem Jahr wartet. Mit der Software wäre es dem Leiter der Beitreibungsabteilung mit Vollstreckungsstelle der Stadt Stuttgart möglich, nicht bezahlte Bußgelder von Verkehrssündern aus dem Ausland über das Bundesamt für Justiz für die Behörde im Ausland einzutreiben. So, wie es die auch „Knöllchen ohne Grenzen“ genannte EU-Richtlinie von Oktober 2010 für Bußgelder ab 70 Euro vorsieht. Nur: Das Programm lässt noch auf sich warten.

„Ich habe noch keinen einzigen Bußgeldbescheid vollstreckt“, klagt der Kämmerer. Technisch sei dies nicht anders möglich, da nur OWI Bußgeldbescheide in fremder Sprache erlassen kann. Außerdem sei nicht geklärt, welche Infos das Papier enthalten muss. Genügt das Datum? Oder benötigt es auch Straße und Art der Ordnungswidrigkeit? Keiner weiß Bescheid. Also lässt man es bleiben.

Rotlichtsünder aus den Niederlanden oder Raser aus Frankreich müssen aus Stuttgart folglich nichts befürchten, sofern sie die ersten Bescheide einfach ignorieren. Für Rothfuss ist das „absolut unbefriedigend“. Schließlich gelte die EU-Richtlinie für alle – aber nicht alle können vollstrecken. Der Amtsleiter berichtet noch von anderen Vollziehern aus dem Land, denen genauso die Hände gebunden seien wie ihm. Seine übergeordnete Stelle, das Stuttgarter Ordnungsamt, spricht gar von einem „immensen Problem in ganz Deutschland“.

Chaos bei Zuständigkeiten

Fakt ist, dass beim Bundesamt für Justiz, dem letzten Glied in der Kette staatlicher Vollstreckung, vergangenes Jahr 603 Straßenverkehrsdelikte von deutschen Ordnungsämtern eingegangen sind. Angesichts der geografischen Lage Deutschlands mit entsprechend hohen Verkehrsmengen aus dem europäischen Ausland vergleichsweise wenig. Ein Sprecher der Behörde will die Zahl nicht kommentieren. Er vermutet „das Problem in Baden-Württemberg“, ohne Belege dafür zu haben. Seine Statistik weist keine Übersicht nach Ländern aus.

Bei der Frage nach der Zuständigkeit herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Die städtischen Vollstreckungsstellen verweisen auf die Ordnungsämter, die wiederum aufs Bundesjustizamt, von dort geht’s zurück ans Innenministerium. Oder vielleicht doch die Polizei? Im Innenministerium will man zur zentralen Bußgeldstelle weiterleiten. Die ist aber nur für Autobahnen zuständig. Tatsache ist: Das Innenministerium fungiert als Aufsichtsbehörde für die Städte und Gemeinden im Land; die Verantwortung für die Verwaltungsarbeit in den Kommunen müsste also hier liegen. Doch weiter geht’s vom Innen- ins Verkehrsministerium, wo es ebenfalls heißt: „Wir nicht.“ Der Ball wird wieder zum Bundesjustizamt zurückgespielt.

Umgekehrt stockt das System ebenfalls an der Bürokratie. Auch Strafzettel deutscher Verkehrsteilnehmer im Ausland werden hierzulande nur bedingt sanktioniert. Einige Staaten haben die EU-Richtlinie noch gar nicht ratifiziert, insofern ist das Abkommen noch nicht rechtmäßig. Zwischen Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz (Frankreich kommt wohl bald hinzu) bestehen Sonderabkommen. Diese sollen den direkten Austausch zwischen den Behörden ermöglichen und die Halterfeststellung vereinfachen. So kam es nach Angaben des Kraftfahrtbundesamts 2011 zu immerhin 592 000 Halteranfragen aus den Niederlanden. 210 000 waren es aus der Schweiz, 60 500 aus Österreich. Wie viele Verstöße sanktioniert wurden, weiß die Behörde nicht.

Die Italiener wählen dubiosen Weg

Das Bundesamt für Justiz hat für das Jahr 2011 EU-weit 2869 nicht bezahlte Bußgeldbescheide im Wert von 32 909 Euro notiert – auch das angesichts von 57 Millionen Fahrzeughaltern in Deutschland eine überschaubare Zahl, zu der auch noch zu 90 Prozent ein einziger Staat beigetragen hat: die Niederlande. Die dortigen Behörden sind offenbar besonders eifrig darin, Strafzettel deutscher Verkehrssünder zu sanktionieren – auch wenn das Geld wie laut EU-Richtlinie vorgesehen in den deutschen Bundeshaushalt fließt. Aus anderen EU-Ländern sind dagegen noch überhaupt keine Gesuche in Bonn eingegangen. Weil die Zahlungsmoral der deutschen Autofahrer so gut ist? Oder die Verwaltungskosten für die ausländischen Behörden in keinem Verhältnis zum Bußgeld stehen? Auch das will das Bundesamt für Justiz lieber nicht interpretieren.

„System Berlusconi“

Italien ist einer jener Staaten, die das EU-Vollstreckungsabkommen noch nicht unterzeichnet haben. Stattdessen hat das Land die Vollstreckung abseits des Rechtswegs selbst in die Hand genommen. Eine Inkassogesellschaft namens Nivi Credit versucht, das Geld säumiger Sünder einzutreiben – für den italienischen Staat wohlgemerkt.

Dubios, und das nicht nur, weil die Bescheide auf Deutsch erstellt werden, der Einspruch aber auf Italienisch erfolgen muss. Volker Lempp, Chefjurist des Auto Clubs Europa (ACE), spricht von einem „System Berlusconi“ und rät jedem Autofahrer, solche Bescheide zu ignorieren. Der ADAC empfiehlt selbiges. Um in der Bundesrepublik vollstrecken zu können, bedarf es eines offiziellen Bewilligungsbescheids einer deutschen Behörde.

Nach Ansicht des ADAC wurde mit dem EU-Beschluss der „zweite vor dem ersten Schritt getan“. Viele rechtliche Fragen seien offen, etwa die nach der Halter- bzw. Fahrerhaftung. In Deutschland muss der Fahrzeughalter nur bei ruhendem Verkehr haften, in der Regel bei Parkverstößen. Dagegen kann aus dem fließenden Verkehr heraus niemand belangt werden, der nachweisen kann, nicht selbst gefahren zu sein. Im Ausland ist das Recht meist weniger differenziert. Dort wird in aller Regel der Halter des Fahrzeugs zur Verantwortung gezogen – ganz gleich, wer am Steuer saß.

Der ACE spricht bei dem ganzen System von einem „Geburtsfehler“. Dass die Bußgelder dem Staat zustehen, aus dem der Verkehrssünder stammt und nicht dem Land, in dem das Delikt begangen wurde, würde nicht zur ambitionierten Bußgeldverfolgung animieren, meint Volker Lempp. Welcher Privatmensch würde schon Mühen und Kosten auf sich nehmen, wenn der Vollstreckungserlös nicht ihm, sondern dem Gerichtsvollzieher zufließen würde?

Peter Rothfuss würde es trotzdem tun – wenn er denn könnte. Aber der Stuttgarter Vollstrecker wartet weiter auf OWI 21. Ihm gehe es „weniger um die Ordnungsfunktion“, sagt er. „Es geht um Gleichbehandlung.“