Boris Johnson ist unterwegs mit seinem Wahlkampfbus in York. Foto: Getty Images Europe

Vor allem mit Schreckens-Szenarien machen Gegner und Befürworter des EU-Referendums in Großbritannien auf sich aufmerksam. Wer die Mehrheit am 23. Juni erringen wird, ist derzeit noch nicht auszumachen.

London - Die Spannung ist groß zum EU-Referendum der Briten hin am 23.Juni hin: Wollen die Briten im „Club“ bleiben, auch wenn ihnen vieles missfällt an der europäischen Staatengemeinschaft? Wollen sie der Union lieber den Rücken kehren, indem sie es „wieder auf eigene Faust“ versuchen, wie die EU-Gegner zu sagen pflegen?

Überall auf den Britischen Inseln gibt es in diesen Tagen vom Nachrichtenstrom kein Entkommen. Mit Sonderseiten überfluten die Zeitungen täglich ihre Leser. Radio und Fernsehen scheinen kaum noch ein anderes Thema zu kennen. In den sozialen Medien drängen sich tausenderlei Meinungen. Jeder hat etwas zu sagen oder glaubt, etwas sagen zu müssen. Manch einem ist schon jetzt alles viel zu viel. An den Wochenenden ziehen die beiden Abstimmungs-Lager mit Info-Ständen, Sonnenschirmen und Hochglanz-Broschüren auf die Straßen. Hier der EU-Sternenkreis einvernehmlich mit der britischen Flagge. Dort der Union Jack trotzig für sich. Hey Sir, dürfen wir mit Ihnen rechnen? Excuse me, Miss, stimmen Sie für uns?

„Britain Stronger in Europe“ lautet die Parole des Pro-EU-Camps. Das soll bedeuten: Mit den EU-Partnern steht Großbritannien besser da. Die Brexit-Befürworter dagegen wollen vor allem raus aus „Europa“. Ihr Banner trägt die Aufschritt „Leave.EU“ - lasst uns die EU verlassen. Sie sind bei der bitteren Kontroverse die Leidenschaftlichsten. Ihnen fließen auch die meisten Spendengelder zu. Ein Gefühl klarer Siegeszuversicht aber beflügelt keine von beiden Seiten.

Mehr Motivation auf der Gegner-Seite

Kein Wunder: Noch immer ist der Ausgang der Schlacht ungewiss. In einigen Themenfeldern, in denen die Befürworter des EU-Verbleibs einen Vorsprung haben, ist er bisher bescheiden. Mehr Motivation besteht jedenfalls auf der Gegner-Seite, deren Anhänger gehen auf jeden Fall zur Urne. 15 bis 20 Prozent aller Briten aber, zeigen die Umfragen, wissen sich noch immer keinen Rat – oder wollen nicht sagen, wie sie abstimmen werden.

Als der Premier David Cameron „sein“ Referendum ansetzte, hat er sich das so nicht vorgestellt. Erst wollte er ja auch gar keins. Ein Referendum sei ganz unnötig, sagte der Tory-Vorsitzende jahrelang. Nur um die Rechten in seiner Partei zu beschwichtigen, gab er schließlich nach. Und als er nachgab, war er überzeugt davon, die Abstimmung ohne weiteres gewinnen zu können. Die Leute würden sich fürchten vor einer Zukunft außerhalb der Gemeinschaft, kalkulierte er. Und um bei Zauderern Zweifel auszuräumen, erhandelte er sich von den EU-Partnern zusätzliche Garantien für die britische „Sonderrolle“ in der EU.

Grundlegende Reform ist für Kritiker nicht grundlegend

Der Deal wurde im Februar in Brüssel besiegelt. Danach gab Cameron den Termin für die Abstimmung bekannt. Seine Vereinbarung mit der EU kam freilich unmittelbar unter heftigen Beschuss, vor allem in den eigenen Reihen. Was Cameron als „grundlegende Reform“ des britischen Verhältnisses zur EU präsentierte, war im Urteil seiner Kritiker kaum der Rede wert - jedenfalls keine „grundlegende Reform“. Seitdem hat Cameron weitere Rückschläge erlitten. Sechs seiner Kabinettsminister, darunter sein alter Gefährte, Justizminister Michael Gove, haben sich dem Brexit-Lager angeschlossen. Boris Johnson, bis vor kurzem noch Bürgermeister von London, machte sich zum weithin beachteten Sprecher der „Brexiteers“.

Auch Schauspieler, Sänger, Sportsleute und viele Kleinunternehmer identifizierten sich mit der Austritts-Forderung. Hedgefunds stellten für die Kampagne beträchtliche Summen zur Verfügung. Selbst die Queen wurde mit der Bemerkung zitiert, sie „verstehe“ die Europäer schlicht nicht – auch wenn Brexit-Gelüste der Queen und überhaupt dieses Zitat bei Hofe entschieden dementiert wird. Viele der überwiegend konservativ orientierten nationalen Zeitungen wie die „Times“ und der „Daily Telegraph“ haben ebenfalls rasch ihre Geschütze auf Cameron und aufs Pro-EU-Camp gerichtet.

Toastbrot, Tee und Gurken

Typisch für diese Medienkampagne ist eine Geschichte, die kürzlich im „Telegraph“ zu lesen war. Die Zeitung meldete aus Brüssel, die EU-Kommission wolle unmittelbar nach dem Referendum aus „Ökodesign“-Gründen elektrische Apparaturen wie hochleistungsstarke Wasserkocher und Toaster verbieten. Nur wegen des Referendums sei die Sache in EU-Kreisen bisher geheim gehalten worden. Bebildert war der Bericht mit zwei goldbraun gerösteten Toastscheibchen. Und mit einer Schönen bei einer Tasse „britischen Tees“.

Früher amüsierte man sich in England am Frühstückstisch noch darüber, wenn man las, dass Brüssel angeblich keine gekrümmten Gurken mehr zulassen wollte. Boris Johnson selbst war ja einmal EU-Korrespondent des „Telegraph“ in den 1990er Jahren und zauberte jede Menge unterhaltsamer Stories dieser Art aus dem Hut. Jetzt aber wird gerne die Frage gestellt, was „die Europäer“ mit Großbritannien sonst noch vorhaben: Hat die eigene Regierung möglicherweise Zuwanderungs-Statistiken manipuliert, um die wahre Migrationswelle zu vertuschen und um der EU einen Gefallen zu tun?

Die Zuwanderung aus anderen EU-Ländern ist in der Tat noch immer das rote Tuch der Brexit-Befürworter. Man müsse, fordern die EU-Gegner, endlich wieder „das Sagen über die eigenen Grenzen“ haben. Sonst käme „bald die halbe Türkei“ nach England spaziert. Neutrale Beobachter geben zu bedenken, dass von einem EU-Austritt wenig Änderung zu erwarten wäre, solange die Briten umkehrt Freizügigkeit auf dem Kontinent beanspruchen, indem sie etwa gerne in Spanien ihren Lebensabend verbringen wollen. Und der Schengenzone haben sich die Briten eh nie angeschlossen.

Kosten und Sicherheit

Aber solche Einwände gehen leicht unter in den emotionalen Tumulten dieser Auseinandersetzung. Ein anderes wichtiges Thema des Brexit-Lagers sind die Kosten, die die EU Britannien verursacht. Statt jede Woche 350 Millionen Pfund an Beiträgen nach Brüssel zu überweisen, könne man dies Geld sehr viel besser ins eigene Gesundheits- oder Schulwesen investieren, argumentieren Boris Johnson und seine Mitstreiter immer wieder. Die andere Seite wirft den „Brexiteers“ vor, bei ihrem Kalkül Rabatte, Regionalfonds und wirtschaftlichen Nutzen der Mitgliedschaft zu ignorieren. Aber die simple Parole, die Johnson nun auf seinen „Brexit Battle Bus“, seinen Wahlkampfbus, hat malen lassen, verfehlt ihre Wirkung nicht. Eine Menge Briten haben von der EU „echt genug“.

Zwischen den Meinungslagern hat sich seit Februar wenig bewegt. Nicht einmal der Auftritt des US-Präsidenten Barack Obama im April in London hat offenbar viel erreicht. Deshalb mobilisieren die Befürworter jetzt dort, wo sie sich die meiste Wirkung erhoffen. Die Wähler sollen sich schön gruseln vor den wirtschaftlichen und finanziellen Folgen einer Austritts-Entscheidung am 23.Juni. Schatzkanzler George Osborne etwa warnt, dass im Brexit-Falle jeder britische Haushalt im Jahr „4300 Pfund ärmer“ wäre, und dass „Zehntausende von City-Jobs verloren“ gingen. Mark Carney, der Gouverneur der Bank von England, sieht die Preise dramatisch steigen, das Pfund abstürzen, Großbritannien in eine neue Rezession steuern. Und Christine Lagarde vom Internationalen Währungsfonds (IWF) sagt einen „gewaltigen Crash“ der Aktienmärkte voraus.

Die lieben Alliierten

Die EU-Gegner halten all das für Propaganda. Sie wissen aber, dass die Sorge der Briten um Jobs und Einkommen ein Problem für sie ist wie die Frage nach der nationalen Sicherheit. Militärs und Geheimdienst-Bosse haben sich konsequent für den Verbleib in der EU ausgesprochen. „Ein Austritt wäre ein echtes Sicherheits-Risiko“, hat es Ex-MI5-Chefin Eliza Manningham-Buller formuliert. Ganze Kolonnen ehemaliger Pentagon-Bosse drängen mittlerweile die „lieben Alliierten“, die vorhandene Zusammenarbeit bloß nicht aufs Spiel zu setzen. „Ein Brexit hilft nur Putin“, erklären sie. David Cameron selbst hat die EU als stabilisierenden und friedensfördernden Faktor in Europa gelobt. Ob er damit meine, dass ein Brexit „den Dritten Weltkrieg“ auslösen werde, hat Boris Johnson ironisch gefragt. Schließlich hat sich Johnson nicht gescheut, die EU als eine Gefahr für Demokratie und Freiheit zu brandmarken. Wie Adolf Hitler, nur eben „mit anderen Methoden“, will die Union einen Superstaat Europa schaffen, hat der Ex-Bürgermeister am vorigen Wochenende geklagt. Dagegen müssten die Briten mal wieder, wie in alten Zeiten, mit einem klaren Nein Stellung beziehen. Als „Helden Europas“ müssten sie sich wieder erweisen.

Winston Churchill will jeder auf seiner Seite haben. Hier „Einwanderungsschwemme“, „Fremdbestimmung“ und EU-Kosten - dort Wachstum und Sicherheit, Wohlstand und Stabilität. Beide Lager haben ihre Themen gefunden. Beide malen nach Kräften Schreckens-Szenarien aus. Auf diesem Feld wird die Schlacht der nächsten Wochen ausgetragen. Noch hoffen die EU-Fürsprecher, dass ihre Landsleute sich „eines Besseren besinnen“ werden. Aber das Brexit-Camp wirft alles an die Front, was ihm am 23.Juni einen Sieg verschaffen könnte. Wer hier gewinnt, ist noch nicht gesagt.