Justitia blickt gelegentlich auch kritisch auf Rechtsanwälte herab Foto: dpa

Rechtsanwälte stehen ihren Mandanten in Streitigkeiten und vor Gericht bei. Doch gar nicht so selten landen sie selbst auf der Anklagebank. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt in einem haarsträubenden Fall.

Stuttgart - Wenn Susanne S. (Name geändert) die vergangenen vier Jahre Revue passieren lässt, erschaudert sie. In dieser Zeit hat sie fast alles verloren – ihren Mann, viel Geld und das Vertrauen in die Gerechtigkeit. Alles begann mit einem Todesfall. Als die Mutter ihres Mannes verstarb, gab es Streit ums Erbe. Schließlich wurde ein Haus aus dem Nachlass verkauft. Weil das Ehepaar aus dem Raum Stuttgart schon seit längerem im Ausland lebte, beauftragte es auf Empfehlung einen Rechtsanwalt mit der Abwicklung der Formalitäten.

Im Oktober 2011 überwies der Käufer des Hauses über 200 000 Euro auf das Konto des Rechtsanwalts aus dem Landkreis Esslingen. Doch der leitete zunächst gar nichts weiter. „Erst hat er behauptet, die Gegenseite habe nicht bezahlt, dann hatten wir angeblich Steuerschulden, für die er das Geld zurückbehalten wollte, danach war er immer öfter gar nicht zu erreichen“, erzählt Susanne S, „und wenn doch, hat er uns nur angelogen.

Im Lauf der Zeit tröpfelten immer mal wieder kleinere Beträge aufs Konto der Mandanten. Doch nach der Berechnung von Susanne S. fehlen bis heute mindestens 80 000 Euro. Das Mandat hat sie dem Rechtsbeistand längst entzogen. Ihren Mann, berichtet sie, habe der Ärger so mitgenommen, dass er vor wenigen Monaten an einem Herzinfarkt verstorben ist.

Nach monatelangen Ermittlungen der Polizei, Hausdurchsuchungen und Zeugenbefragungen scheint der Grund für die Zahlungen in Scheibchen und die ständigen Ausflüchte festzustehen: Der Rechtsanwalt steckt selbst in massiven Finanzproblemen. Offenbar gab es in den vergangenen Jahren rund ein Dutzend Mahnverfahren gegen ihn. Über 30 Mal erhielt der Gerichtsvollzieher Vollstreckungsaufträge. Der Jurist hatte immer wieder größere und kleinere Schulden nicht bezahlen können – unter anderem höhere Beträge beim Versicherungswerk der Rechtsanwälte und sogar bei der Rechtsanwaltskammer Stuttgart.

Konten sollen privat und geschäftlich genutzt worden sein

Auffällig dabei: Oft hat der Mann in letzter Sekunde doch noch bezahlt. Die Polizei glaubt: mit dem Geld der im Ausland lebenden Mandanten, das er zumindest in Teilen über Jahre einbehalten hat. Konten wurden offenbar gleichermaßen privat wie geschäftlich genutzt – sollte sich das bestätigen, könnte allein das bereits den Vorwurf der Unterschlagung rechtfertigen. „Dazu hat er uns ständig gedroht“, sagt Susanne S. Sie befürchtet, dass sie und ihr verstorbener Mann nicht die einzigen sein könnten, die auf diese Weise viel Geld verloren haben. „Wenn man nicht einmal mehr seinem Anwalt trauen kann, wem dann?“, fragt sie.

Der betroffene Rechtsanwalt will sich auf Anfrage ebenso wenig zu den Vorwürfen äußern wie die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. „Die Ermittlungen dauern an“, sagt deren Sprecherin Claudia Krauth. Doch um einen Einzelfall handelt es sich nicht. Denn gar nicht selten stehen Rechtsanwälte plötzlich selbst im Blickpunkt der Ermittler. „Das ist nicht unser täglich Brot“, sagt Krauth, „es kommt aber immer wieder vor, dass sich ein Anwalt an Mandantengeldern vergreift.“ Konkrete Zahlen will sie nicht nennen, doch die Ermittler sind regelmäßig mit solchen Vorfällen beschäftigt.

Die Mandantin im Fall aus dem Kreis Esslingen hat sich auch an die Rechtsanwaltskammer Stuttgart gewandt, der offenbar selbst immer wieder Geld vorenthalten worden ist. „Wir haben uns von dort Unterstützung erhofft, aber es hat sich nichts getan“, sagt Susanne S. Ob das stimmt, ist unklar. Zum konkreten Beschwerdeverfahren dürfe man keine Auskunft geben, sagt die Geschäftsführerin Heidi Milsch. Im vergangenen Jahr seien aber gegen die 7300 Mitglieder der Kammer insgesamt 117 Beschwerden eingegangen. Das entsprach einer Quote von 1,6 Prozent. Bei der Kammer in Tübingen waren es 214 Beschwerden bei einer Mitgliederzahl von 2090 Mitgliedern, in Karlsruhe 243 Beschwerdeverfahren unter 4665 Mitgliedern. Die Kammer in Freiburg hält sich mit Zahlen zurück.

Widerruf von Zulassungen meist wegen Ruhestands

Im Kammerbereich Stuttgart sind im vergangenen Jahr 259 Zulassungen widerrufen worden. „Dabei handelt es sich aber ganz überwiegend um Widerrufe, denen ein verzicht des Rechtsanwalts auf die Zulassung vorausgeht“, sagt Milsch. Das passiere in der Regel wegen Ruhestands oder Wechsel des Berufs, nicht wegen Straftaten.

Spektakuläre Fälle gibt es gleichwohl immer wieder. Der bekannteste aus dem Raum Stuttgart ist wohl der sogenannte Fesselsex-Prozess. Vor einigen Jahren wurde ein Anwalt vom Landgericht in zweiter Instanz vom Vorwurf der uneidlichen Falschaussage freigesprochen. Zuvor war seine Schwiegermutter zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil sie den Mann bei Fesselspielen beinahe umgebracht haben soll. Wer dabei wann gelogen hatte, blieb bis zum Schluss ungeklärt. Und erst vor wenigen Tagen platzte am Landgericht der Prozess gegen einen 44 Jahre alten Mann, dem 112 Einbrüche und Einbruchsversuche zur Last gelegt werden. Der Grund: Gegen den Angeklagten wird in einem weiteren Verfahren wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Urheberrecht ermittelt. Dabei soll es um Uhrenimitate gehen – und die Ermittler haben in diesem Fall auch den Verteidiger des Mannes ins Visier genommen.

Hintergrund Zulassung von Rechtsanwälten

Für die Zulassung von Rechtsanwälten sind die Rechtsanwaltskammern zuständig. In Baden-Württemberg gibt es sie in Stuttgart, Tübingen, Karlsruhe und Freiburg. Dort sind alle Rechtsanwälte im Land Mitglied. Derzeit sind es insgesamt gut 17 500. Die Kammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und unterliegen der Staatsaufsicht. Zu ihren Aufgaben gehört auch das Verfolgen von Beschwerden gegen Mitglieder.

Wer glaubt, dass ein Rechtsanwalt seine Berufspflichten verletzt hat, kann der jeweiligen Kammer eine Beschwerde zukommen lassen. Diese darf nicht anonym sein, sondern muss alle Beteiligten benennen.

Die Kammer hört ihr Mitglied zu den Vorwürfen an. Kommt sie zum Schluss, dass ein Verstoß vorliegt, kann sie je nach Schwere eine Beanstandung oder Rüge aussprechen oder den Vorgang an die Generalstaatsanwaltschaft übergeben.

Die Zulassung eines Rechtsanwalts kann aus unterschiedlichen, klar definierten Gründen erfolgen. Dazu gehört eine strafgerichtliche Verurteilung, die dem Betroffenen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter abspricht. Auch ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Anwalts oder eine Tätigkeit, die das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefährdet, zählen dazu. (jbo)