OB Jürgen Zieger freut sich über die Wiederwahl: „Ich erachte es als Geschenk, an wichtiger Stelle mitgestalten zu dürfen.“ Foto: Hass

Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger ist für eine dritte Amtszeit wiedergewählt – und sieht die Region Stuttgart vor großen Herausforderungen. Ein Gespräch über Kannibalisierung im Einzelhandel, seinen Kollegen Fritz Kuhn und neue Formen der Bürgerbeteiligung.

Esslingen Der - Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Zieger ist schon 16 Jahre lang im Amt – und nach seiner Wiederwahl vom Sonntag voller Tatendrang. Dabei predigt der Sozialdemokrat und Regionalrat kein Weiter-so: Die Zeiten, in denen eine Rathausspitze ihren Bürgern mit fertigen Lösungen kommen konnte, sind seiner Ansicht nach vorbei. Ein Stadtoberhaupt müsse heutzutage sehr viel stärker moderierend tätig sein als in der Vergangenheit.
Herr Oberbürgermeister, herzlichen Glückwunsch zur Wiederwahl. Wie sehr schmerzt Sie die geringe Wahlbeteiligung?
Mit Verlaub, diese lag immerhin bei 25,8 Prozent. Damit liegt Esslingen über dem zuletzt erreichten Durchschnitt in der Region – zumindest, wenn es Wahlen mit unstrittigen Konstellationen gab, wie das bei uns der Fall war. Der renommierte Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling wertet die Abstinenz großer Teile der Bevölkerung als Ausdruck von Zufriedenheit. Da ich aus Umfragen weiß, dass mehr als 80 Prozent der Menschen in Esslingen sich hier wohl fühlen, halte ich diese Aussage nicht für falsch.
Sie selbst haben gesagt, dass man sich in 16 Jahren als Rathauschef auch Gegner macht. An welchen Dingen stören sich denn die Menschen in Esslingen?
Der Oberbürgermeister wird für alles und jedes in seiner Stadt verantwortlich gemacht – bis hin zu jedem Schlagloch, jedem Strafzettel, jedem fehlenden Mülleimer. Das sind beispielsweise auch Baugenehmigungen, die die Grundstücksbesitzer freuen, aber eventuell Nachbarn stören. Oder nehmen Sie die Erweiterung der Weltfirma Festo: die einen finden das super, weil es den Wirtschaftsstandort Esslingen stärkt, die anderen stören sich an dem Hochhaus. Insofern ist die Zustimmung von 77 Prozent aus meiner Sicht ein glänzendes Ergebnis. Ich bin damit sehr zufrieden.
Speist sich daraus ein gewisser Übermut, direkt nach der Wiederwahl die Debatte über Baugebiete im Stadtgebiet neu zu entfachen? Schließlich sind Ihnen die Pläne vor einem Jahr um die Ohren geflogen.
Unser Ziel bleibt, Esslingen in einer Größenordnung von rund 90 000 Einwohnern zu halten. Ob das nur gelingen kann, wenn wir – wie ursprünglich angedacht – in unberührte Naturlandschaft eingreifen, lasse ich im Moment einmal dahingestellt. Fakt ist allerdings, dass wir in den vergangenen Monaten neue, bisher nicht geahnte Potenziale an möglichen Flächen für Wohnbebauung gewonnen haben – etwa durch die geplante Verlagerung der Hochschule von der Flandernhöhe in die Neue Weststadt.
Reicht das, um im Wettbewerb mit anderen Kommunen Familien anzulocken?
Esslingen gehört zu den attraktivsten Wohnstandorten in der Region . . .
 . . .behauptet ein selbsbewusster OB . . . 
. . . und belegt das auch: Bauplätze in Esslingen sind binnen weniger Stunden weg. Wir haben eine wunderbare Altstadt mit viel Flair, die sehr viel Identität vermittelt. Das Angebot im öffentlichen Nahverkehr, in Sport und Kultur ist glänzend, wir haben ein eigenes Krankenhaus und beste Einkausfmöglichkeiten. Das heißt: wir müssen nicht werben darum, dass Menschen nach Esslingen ziehen wollen. Unser Problem ist, dass wir im Moment zu wenig Platz haben, um dem Bedarf gerecht zu werden.
Brauchen wir ganze neue Siedlungsachsen, um den in der Region benötigten Zuzug an Arbeitskräften künftig zu ermöglichen? Auch Stuttgart platzt ja aus allen Nähten.
Wir erleben in der Tat eine Renaissance der Städte. Aber politisch sehe ich keinerlei Mehrheiten für ganz neue großflächige Siedlungsgebiete. Eine Chance sehe ich in der Verdichtung, während wir insgesamt schonend mit der Natur umgehen müssen.
Sehen das die Bürger auch so?
Zumindest hat das unsere Debatte im vergangenen Jahr über den Flächennutzungsplan und neue Baugebiete gezeigt, aus der wir jetzt unsere Lehren ziehen. Oberbürgermeister zu sein, heißt, die Seele einer Stadt zu verstehen und den sozialen Frieden zu wahren. Dann muss ich konsequenterweise auch respektieren, dass bestimmte Dinge nicht durchsetzbar sind.
So wie das von Daimler in der Pliensauvorstadt geplante Logistikzentrum? Warum sind Sie da vor den Bürgerprotesten eingeknickt? Aus wahltaktischem Kalkül?
Eindeutig nein, dann hätte ich das Thema ja auch einen Monat später aufrufen können. Ich räume ein, dass bei dem Logistikzentrum Missgeschicke passiert sind, auch die Kommunikation war unglücklich. Aber ich stehe dazu: Ein Projekt dieser Dimension, das soviel Verkehr mit sich bringt, ist an der geplanten Stelle nicht mehr verträglich. Ich halte es für ein Zeichen von Stärke, dies erkannt und entsprechend reagiert zu haben.
Wohlwissend, dass Logistikflächen in der Region Stuttgart händeringend gesucht werden, weil Lastwagenverkehr niemand vor der Haustüre haben will. Das sieht stark nach dem Sankt-Floriansprinzip aus?
Daimler ist mit mehr als 8000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in Esslingen. Und deshalb sehe ich mich in der Pflicht, das Unternehmen zu unterstützen, wo ich nur kann. Im Industriegebiet Neckarwiesen beispielsweise gibt es ein großes Logistikzentrum mit dem Stern. Aber in dem konkreten Fall sind unsere Möglichkeiten ausgereizt. Da muss die Region helfen.
Wenn Sie damit den übergeordneten Verband Region Stuttgart ansprechen, verfügt dieser nicht über die entsprechenden Kompetenzen. Müsste er solche Logistikzentren einfach ausweisen können?
Das wäre ein sehr scharfes Schwert und rechtlich nicht machbar. Was wir brauchen, ist ein Akzeptanzmanagement bei den Städten und Gemeinden – und dort das verstärkte Bewusstsein, dass unser Wohlstand in der Region von der Wirtschaft abhängig ist. Und da sind wir unter Druck.
Wie sehen Sie als Regionalrat überhaupt den Verband und sein Regionalparlament? Ist das allzu oft ein eher zahnloser Tiger?
Um die Frage politisch zu beantworten: ich hätte mir mehr Kompetenzen für den Verband gewünscht. Ich selbst bin ja ein Anhänger der Regionalstadtidee, aber die hat hierzulande wenig Freunde. Nur: solange wir in diesem Ballungsraum ein Konglomerat von 176 einzelnen Kommunen haben, wird die Bereitschaft zur Zusammenarbeit begrenzt sein. Da ist zwangsläufig jeder zunächst mal sich selbst der Nächste.
Große Hoffnungen ruhen auf der einenden Kraft ihres Amtskollegen, des Stuttgarter Oberbürgermeisters Fritz Kuhn, der inzwischen auch Regionalrat und sogar stellvertretender Regionalpräsident ist. Teilen Sie diese Hoffnungen?
Die 20 Jahre währende Geschichte des Verbands Region Stuttgart ist geprägt davon, dass die Landeshauptstadt sich nie in den Dienst dieser Region gestellt, sondern vornehmlich eigene Interessen verfolgt hat. Fritz Kuhn – wir beide pflegen ein kollegiales, niederschwelliges Verhältnis – bemüht sich, Stuttgart eine andere, regional deutlich aktivere Rolle zu geben. Das wird wahrgenommen, das muss aber über konkrete Projekte eingelöst werden. Und wenn Stuttgart nun erst einmal die offene Feldschlacht im Einzelhandel eröffnet, ist das ein gewisser Widerspruch.
Wobei die Entscheidungen für Einkaufstempel wie das „Gerber“ oder das „Milaneo“ vor Kuhns Zeit gefallen sind.
Ich schiebe das auch gar nicht Fritz Kuhn in die Schuhe. Irritierend finde ich nur, dass es in Stuttgart auf politischer Ebene inzwischen gar niemand mehr gewesen sein will, der das alles genehmigt hat. Festzuhalten bleibt: die Kannibalisierung der Einzelhandelsstandorte in der Stadt Stuttgart und der Region gewinnt an Schärfe. Und das ist nicht gerade ein Grundmuster für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Wie stellt sich eine Stadt wie Esslingen in diesem Wettbewerb auf ?
Alle Mittelzentren rund um Stuttgart herum stehen angesichts der riesigen neuen Handelsflächen vor großen Herausforderungen, aber auch wegen des geänderten Kaufverhaltens der Leute. Deshalb brauchen wir drei Dinge: erstens eine Angebotsvielfalt innerhalb der Innenstadt, zweitens eine besondere Atmosphäre, die Esslingen als schönstes Freilichtkaufhaus der Region bietet, und eine gute Erreichbarkeit. Das sind die Dinge, mit denen unsere Stadt punkten kann – und wird.
Zuletzt haben Sie immer wieder betont, Themen und Projekte so zu diskutieren, dass die Bürgerschaft zusammengehalten wird. Was müssen Sie anders machen?
Aus meiner Sicht ist es eine große Aufgabe, das Verhältnis von Bürgerschaft, Politik und Administration völlig neu auszutarieren. Wer heute erfolgversprechend Politik machen will, kommt nicht umhin, die Bürger anders mitzunehmen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Man muss den Bürgern allerdings auch sagen: Gehörtwerden heißt nicht zwingend Erhörtwerden. Und: Gemeinwohl geht vor Eigenwohl. Aber insgesamt brauchen wir andere Prozesse des Argumentationsaustausches als es die klassischen Verfahren bieten.
Was bedeutet das konkret?
Flapsig gesagt, ich mache jetzt häufiger mal die Merkel. Aber im Ernst: in der Vergangenheit hat die Stadtverwaltung zu baulichen Entwicklungen fertige Pläne vorgelegt und schon die Entwürfe beschließen lassen. Ich habe mir vorgenommen, künftig viel offener zu sein – und statt mit fertigen Konzepten zu kommen, Fragen zu stellen und Varianten möglicher Antworten zu präsentieren. Der Oberbürgermeister ist da Moderator. Die Ideen, Einwände und Einschätzungen der Bürger werden ernst genommen und fließen in den Entscheidungsfindungsprozess ein. Ich hoffe, das wird den Menschen helfen, politische Prozesse besser zu verstehen – und nur so haben wir die Chance, die Akzeptanz für politische Entscheidungen wieder zu erhöhen.
Schön wäre es, wenn dadurch nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die Attraktivität von Politik wieder erhöht würde.
Es ist schon ein Manko, wenn nur gut ein Viertel der Bevölkerung zu einer Wahl geht. Und dazu passt natürlich, dass sich die Parteien immer schwerer tun, qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten für den Gemeinderat und gar für Wahlämter zu finden. Ganz verwunderlich ist das nicht, denn als Stadtoberhaupt hat man harte Diskussionen durchzustehen, muss viel Respektlosigkeit ertragen und spürt viel Druck, der weit in die Familie hineinreicht.
Das klingt ja eher nach einem Plädoyer fürs Aufhören als danach, nach 16 Jahren im Amt noch einmal durchzustarten?
Sie können mir glauben, dass ich das Für und Wider einer erneuten Kandidatur sehr sorgsam abgewogen habe. Mir wird ja selbst von meinen Kritikern bestätigt, dass die Stadt in den Jahren, in denen ich Verantwortung tragen durfte, eine enorm positive Entwicklung durchgemacht hat – im Blick auf die touristische Attraktivität, die wirtschaftliche Prosperität und die Innenstadtentwicklung. Ich erachte es als Geschenk und habe richtig Lust, an einer so wichtigen Stelle weiterhin maßgeblich mit gestalten zu dürfen.
Ihr Finanzbürgermeister Bertram Schiebel hat dieser Tage angekündigt, nach zwei Perioden ausscheiden zu wollen – mit dem Hinweis darauf, dass eine solche Begrenzung generell gut wäre für Amtsträger.
Also, die persönliche Meinung von Herrn Schiebel habe ich zu respektieren. Meine Grundhaltung ist die, dass es ein großer Luxus unserer Gesellschaft ist, Menschen in bester körperlicher und geistiger Verfassung in den Ruhestand zu schicken. Das ist Verschwendung volkswirtschaftlichen Vermögens. In Zukunft werden die Menschen länger arbeiten müssen, allein um die Rente im Alter sicher zu stellen. Amtszeiten sind deshalb für mich kein Kriterium. Ich fühle mich eins mit dem, was ich tue und den Zielen, die wir anpeilen – und das lässt mich manche Anstrengung ertragen.