Johann Reißer beschäftigt sich mit den Spannungen zwischen ländlichem Raum und Industrie. Foto: Horst Rudel

Der Lyriker, Romancier und Theaterschriftsteller Johann Reißer ist am Montag in das Bahnwärterhaus eingezogen. Der 36-Jährige wird dort ein halbes Jahr lang leben und an seinen beiden Romanen „Pulver“ und „Land, Maschinen, Paradies“ schreiben.

Esslingen - Mit Johann Reißer ziehen Geschichten über ländliche Armut und städtischen Reichtum, über Industrie und Dynastien ins Bahnwärterhaus ein. Am Dienstag wurde er vom Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Zieger und dem Kulturamtsleiter Benedikt Stegmayer ins Haus eingeführt. An zwei Romanen sitzt der neue Stipendiat gerade: „Land, Maschinen, Paradies“, ein Buch über das Leben in einem ostbayrischen Dorf zwischen Armut und dem wirtschaftlichen Aufstieg der Nachkriegsjahre.

Sein Roman „Pulver“ beschreibt eine Rottweiler Unternehmer-Dynastie, die mit der Erfindung eines rauchlosen Pulvers steinreich wurde. „Man muss sich Rottweil als alte Reichstadt vorstellen und daneben liegt eine Fabrik, so groß wie die Stadt selbst, zu der aber niemand von der Stadt hin ging“, sagt er.

Seine Kurzprosa ist surreal und sehr lyrisch, er schreibt in einer klaren und ausdrucksstarren Sprache, die er auf seinem Blog mit ziemlich cleveren Bildern montiert. Vorbilder? Herbert Achternbusch etwa? „Nein, nicht Achterbusch“, sagt er, „ich habe erst später erfahren, das meine Texte an diesen oder jenen Autor erinnern.“

In seinem Heimatdorf in Ostbayern gab es nur wenige Bücher, dafür brachte der Vater die Lektüre aus der Stadtbücherei mit, meist Karl May. In seinem Lebensweg ging Johann Reißer zunächst auf Nummer sicher. Nach der Realschule machte er eine Ausbildung als Steuerfachkraft. Diesen Beruf hätte er ein Leben lang ausüben können. Wenn da nicht immer dieser fatale Drang zum Schreiben gewesen wäre.

Johann Reißer machte das Abitur nach, studierte in Berlin Literatur und Philosophie und fand zum Theater. „Literatur braucht Räume“, sagt er, und damit meint er konkrete Räume mit Höhe, Länge und Tiefe. Sechs Jahre führte er als Freier Theatermacher seine Truppe Plastikworks zu Themen wie Wirtschaftsliberalismus, Kolonialismus und Stadt- und Medienentwicklung auf die Bühne.

In dieser Zeit arbeitete Reißer auch an einer Dissertation über die Lyriker Wolf-Dieter Brinkmann, Barbara Köhler und Thomas Kling. „Archäologie und Sampling“ heißt es im Titel seiner Dissertation .Dieser Titel schildert gleichzeitig auch seine eigene poetische Verfahrensweise. Er zieht durch die Schichten der vergangenen Literatur, oder der vergangenen Sprache einen Querschnitt und betreibt so Archäologie. Diese Fundstücke montiert er neu, das ist das Sampling in seinen Arbeiten.

Ein halbes Jahr wird er nun im Bahnwärterhaus wohnen. Als erstem Bahnwärterstipendiaten ist ihm aufgefallen, dass es dort keine Waschmaschine gibt. Was ihn gleich zu einem Gedicht inspiriert hat, über Waschpulver und den Neckar. Literatur erzeugt Spannung, und Spannungen erzeugen Literatur. Johann Reißer spürt die Spannungen immer in den Gegenden auf, in denen er lebt.

Recherchehaft nähert er sich zur Zeit diesem neuen Wirtschaftsraum Esslingen mit seinem ganz besonderen Inventar. Neulich hat sich Reißer an den Neckar gesetzt, die Lastwagen auf der B 10 beobachtet und sich die Namen der Speditionen aufgeschrieben. Es waren über 100 Stück, Rohmaterial für neue Prosa.