Hoch das Bein. Eric Gauthier (vorn) macht sich locker. Foto: Horst Rudel

Der Tänzer und Choreograf Eric Gauthier hat sich in den Redaktionsräumen der Stuttgarter Zeitung den Fragen von Büroleiter Kai Holoch gestellt – und die StZ-Leser rundweg begeistert.

Esslingen - Um ein Haar hätte es nicht geklappt mit dem Redaktionsbesuch von Eric Gauthier in Esslingen. 26 Jahre alt sei er gewesen und Mitglied des Stuttgarter Balletts, so erzählt der Tänzer. Da habe er, des täglichen Drills überdrüssig, an die Tür seines Mentors, des damaligen Compagnie-Chefs Reid Anderson geklopft hat und gesagt: „Reid, ich kündige, gehe nach London und werde der neue Mick Jagger.“ Als Rockmusiker könne er sogar mit dem Bier in der Hand auf der Bühne stehen. Das sei kein Vergleich mit dem harten Ballettleben. Er solle doch morgen wiederkommen, habe Anderson gelassen geantwortet. „Wenn du das dann immer noch willst, dann kannst du gehen.“

Gauthier ist geblieben, der alte Mick Jagger rockt mangels Alternative immer noch mit den Rolling Stones über die Bühnen der Welt. Sein verhinderter Nachfolger hat unterdessen am Mittwoch die kleine Bühne gerockt. Im Rahmen der Reihe „StZ im Gespräch in Esslingen“ hat sich Eric Gauthier in den Redaktionsräumen im Palmschen Bau den Fragen des Büroleiters Kai Holoch gestellt. Schnell ist dabei klar geworden, warum dem Tänzer und Choreografen, der mittlerweile selbst Chef eines erfolgreichen Tanztheaters, des von ihm vor zehn Jahren ins Leben gerufenen Gauthier Dance ist, die Sympathien des Publikums nur so zufliegen. Zwei Worte haben ihm an diesem Abend genügt, um das Eis zu brechen. Auf die Frage Kai Holoch, wie verrückt man sein müsse, um Tänzer zu werden, antwortete Gauthier ebenso umfassend wie ehrlich: „Ganz verrückt“.

Begonnen hat alles mit „Cats“

Begonnen hatte alles, als der kleine Eric im kanadischen Montreal eine Aufführung des Original-Musicals „Cats“ gesehen hat. Damit war der Eishockey-Traum, den alle kanadischen Jungs träumen, beerdigt. Die Eltern hatten nichts gegen eine Karriere als Tänzer einzuwenden, selbst um den Preis, dass der Neunjährige dafür in das Tanzinternat nach Toronto umziehen musste. „Meine Mutti hat gedacht, da wird der Junge wenigstens eine gute Haltung kriegen“, erinnert sich Gauthier heute, 31 Jahre später. Der Junge zeigte nicht nur Haltung, sondern auch Talent. 1996 nahm ihn Reid Anderson als Tänzer mit nach Deutschland. Auch hier war Haltung gefragt. „Reid hat mir schon früh gesagt, dass ich nie ein Romeo sein werde“, sagt Gauthier. Das war schmerzhaft für den Tänzer, den sie „Charlie Chaplin“ genannt haben – wegen seiner komischen Ausstrahlung und den lustigen Rollen, die er immer hatte tanzen müssen.

„Ich habe mich trotzdem mit meinem Platz in der Tanzwelt abgefunden“, sagt er heute. Immerhin habe er sechs Jahre lang den Mercutio, den Freund Romeos, gespielt. „Was kann es Schöneres geben, als für seinen Freund zu sterben – und das zehn Minuten lang.“ Zehn Minuten sterben heißt, zehn Minuten im Scheinwerferlicht. „Das ist ein cooler Tod“, sagt Gauthier.

Auch Marcia Haydée hat er „öfters mal herumbewegt“

Sein Traum, einmal eine Primaballerina im Arm zu halten, sei trotzdem in Erfüllung gegangen, wenn auch nicht im klassischen Ballett. Bei modernen Inszenierungen hätten sich auch Stars in die Tanzniederungen begeben. „Dabei habe ich auch die Marcia Haydee öfters mal herumbewegt“, sagt er. Und nicht fallen gelassen! Kein Witz, beteuert Gauthier. Es sei schon vorgekommen, dass ein Tänzer beim Vortanzen so selbstverliebt in den Spiegel schaute, dass ihm die Dame entglitt. „Den sortiere ich dann gleich aus“, sagt Gauthier, der inzwischen als Chef der Gauthier Dance eine eigene Compagnie leitet. Nicht die Liebe zum Ich, sondern die Liebe zum Tanz müsse einen Tänzer leiten.

Die Heimat der vor zehn Jahren gegründeten Truppe Gauthier Dance ist das Theaterhaus in Stuttgart, getanzt wird auf der ganzen Welt. „Die Zeit war reif für Gauthier Dance“, sagt der Künstler rückblickend. Tanztheater sei bis dahin düster und schmerzhaft gewesen. „Wir haben the Sunny Side of Modern Dance gezeigt – poetisch und lustig“, sagt Gauthier. Das von übel meinenden Kritikern angeheftete Etikett „Popcorn-Ballett“ habe nicht lange Bestand gehabt – Gauthier Dance wohl.

Soziales Engagement für Kranke, Alte und Kinder

Als Leiter eines Unternehmens mit 16 Tänzern und einem Jahresetat von 2,5 Millionen Euro hat Gauthier, gemessen an seiner anfänglichen Selbsteinschätzung, eine beinahe unlösbare Aufgabe übernommen. „Als Chef muss ich mich drum kümmern, dass nicht alle verrückt werden“, sagt er.

Solchermaßen geerdet, tanzt die Truppe nicht nur auf den großen Bühnen, sondern auch mal vor zehn krebskranken Kindern in ihren Bettchen oder im Altersheim. „Wir wollen auch für Menschen spielen, die nicht ins Theater können“, sagt Gauthier. Wie wichtig das sei, habe er als Krankenpfleger gelernt, als er seinem Vater, einem berühmten Alzheimer-Forscher, häufiger zur Hand gegangen sei.

Am Ende sind sich Künstler und Publikum ganze zwei Mal nicht einig gewesen. Das war, als Gauthier den anhaltenden Beifall nach der Gesprächsrunde mit einem „Warum, ich habe ja nicht getanzt, ich habe ja nur geredet“ abgewehrt hat und als er die noch heftigeren Sympathiekundgebungen nach seiner Gesangszugabe mit einem „Warum, ich habe doch nur gesungen“ kommentierte. Eines so falsch, wie das andere: Eric Gauthier hat in den anderthalb Stunden nicht „nur“ geredet, und er hat nicht „nur“ gesungen. Er hat sein Publikum redend und singend 90 Minuten lang in seinen Bann gezogen.