Altministerpräsident Erwin Teufel gilt als einer der Architekten Europasc Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Vertragsbrüche in der EU, mangelndes Vertrauen in den Euro – der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel hat nach dem Brexit umfassende Reformen in der EU angemahnt – ein Interview mit einem der Architekten Europas.

Stuttgart - Herr Teufel, wie sehr blutet Ihnen das Herz, wenn Sie die Entscheidung der Briten zum EU-Austritt sehen?
Ich glaube, dass dies ein großer Rückschlag für die europäische Entwicklung ist. Großbritannien hat aber einen größeren Schaden durch diese Entscheidung als die EU.
Warum?
Großbritannien hat seit dem Beitritt zur EU sehr von ihr profitiert und viele Sondervereinbarungen genossen. Man sollte zudem nicht vergessen, dass es die Europäische Union jahrelang auch ohne Großbritannien erfolgreich gab. Das ändert aber nichts daran, dass ich den Brexit für falsch halte.
Sie selbst haben einst maßgeblich an den EU-Verträgen einst mitgearbeitet. Hat sich die Distanz zwischen Politik und Bürgern in den vergangenen Jahren so vergrößert, dass es nun zu einer solchen Entscheidung kam?
Es gibt eine Reihe von Gründen. Einer ist die Euro-Krise. Sie wird mir in diesen Tagen viel zu wenig thematisiert, wenn es um die Skepsis der Menschen zu Europa geht. Denn die Nichteinhaltung der Stabilitätskriterien hat entscheidend zum Misstrauen der Menschen beigetragen. Hinzu kommt, dass viele Bürger Europa als ein fernes Gebilde empfinden, dessen Entscheidungsprozesse sie nicht direkt verfolgen können. Das kann man verstehen, so lange man nicht direkt betroffen ist. Aber das ist längst vorbei in dieser globalisierten Welt. Der Handwerksmeister ist genauso betroffen von europäischer Politik betroffen wie der Landwirt oder der mittelständische Unternehmer. Für diese Form von Zentralismus gibt es ein Medikament, das alle Probleme lösen könnte. Nämlich die Subsidarität. Anders gesagt: Wir müssen Europa endlich vom Kopf auf die Füße stellen.
Und wie?
Man muss Europa von den Bürgern her denken, sonst kann es keine gute Zukunft haben. Die Instanz, die den Menschen am nächsten steht, ist die Gemeinde. Sie hat ein Selbstverwaltungsrecht, der Bürger kann sich an der Gestaltung der Politik selbst beteiligen. Was über die Kraft einer Stadt hinausgeht, ist dann Sache der nächsten Ebene, nämlich des Landkreises. Sie leisten im Nahverkehr, bei den Berufsschulen, in der Trägerschaft von Kliniken und anderen Bereichen eine ausgezeichnete Arbeit. Was über die Kraft eines Kreises hinausgeht, fällt dann in die Zuständigkeit eines Landes. Auch sie haben wichtige Kompetenzen, zum Beispiel die Bildung und Forschung, Innere Sicherheit und Justiz. Was über die Kraft des Landes hinausgeht, ist wiederum Sache des Nationalstaates. Und erst danach kommt die europäische Ebene.
In der politischen Realität sieht das aber anders aus.
So ist es. Es ist ein großes Übel, dass der europäischen Union in den vergangenen Jahrzehnten zu viele Aufgaben zugewachsen sind und von einzelnen Staaten dorthin abgegeben wurden. Das sind tausend Aufgaben, die weiter unten viel besser, billiger, näher an den Menschen und den Problemen gelöst werden könnten. Wenn wir eine bessere Akzeptanz Europas erreichen wollen, ist es deshalb ganz entscheidend, dass die EU einen Großteil der Aufgaben heruntergibt an die Kommunen, Kreise, Regionen, Länder und den Nationalstaat.
Was bleibt dann für Europa?
In einer Welt, die immer mehr zu einer Welt wird, brauchen wir Europa mehr denn je, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschaft, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Forschungszusammenarbeit. Für mich steht deshalb fest: Wer erreichen will, dass Europa wieder positiv wahrgenommen wird, der muss die Arbeit der EU auf die wesentlichen grenzüberschreitenden Aufgaben reduzieren.
Wer soll den Impuls geben?
Auf jeden Fall nicht die Europäische Kommission. Da sitzen tausende Spezialisten für ein immer kleineres Fachgebiet. Diese Leute wollen natürlich mit aller Gewalt an ihren Aufgaben festhalten. Es muss deshalb auf europäischer Ebene eine Expertengruppe mit unabhängigen Fachleuten und Sachverständigen gebildet werden, die diese Reform angeht. Aber das allein wird nicht reichen.
Wie meinen Sie das?
Die Europäische Union und insbesondere auch die Währungsunion müssen endlich wieder dem alten römischen Rechtsgrundsatz folgen, der da heißt: Verträge sind einzuhalten. Ein großes Übel der EU ist es derzeit doch, dass sie einzelne Verträge nicht einhält.
Welche meines Sie?
Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: In den Tagen vor der Abstimmung in Großbritannien sind von EU-Kommissionspräsident Juncker in mehreren Ländern Abweichungen vom Stabilitätspakt genehmigt worden. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass man eine europäische Währung einführt, sie mit präzisen Stabilitätskriterien versieht, sie von allen Parlamenten der Mitgliedsländer ratifizieren lässt und nachher halten einzelne Staaten die Vorschriften nicht ein. Da kann eine Währung nicht stabil bleiben, und da kann auch kein Vertrauen der Bürger in diese Währung existieren. Was wir brauchen, ist wieder eine strikte Einhaltung der Gesetze. Dabei muss man dann der Europäischen Zentralbank in Frankfurt auch gleich klar machen, dass sie nicht die Herrin der Verträge ist und die Geldpolitik nach ihren Vorstellungen bestimmen kann.
Aber hat die EU in ihrem jetzigen Zustand die Kraft für solche zwingenden Reformen?
Ich glaube, dass die Reformen zwingend notwendig sind. Wenn der Staat von jedem Bürger verlangt, dass er die Gesetze auf Punkt und Komma einhält und ihm ansonsten genauso eine Strafe droht wie dem Handwerker, der seine Arbeit nicht ordentlich erledigt, dann muss man dies auch von der EU erwarten.
Und was passiert, wenn die Reformen nicht zustande kommen. Ist dann der Brexit der Anfang vom Ende Europas? Es gibt ja schon Stimmen aus den Niederlanden, Österreich und auch in Deutschland, die so ein Votum fordern.
Ich sehe die Zukunft Europas nicht so negativ. Da gibt es einzelne Stimmen von politischen Gruppierungen in einigen Ländern. Aber das ist nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung. Dennoch steht für mich fest: Nach der Entscheidung in Großbritannien sollte man jetzt handeln, so lange es Tag ist, um die Entstehung weiterer Negativströmungen zu verhindern und Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre zu korrigieren.