Gänse vor einem Windrad in Schleswig-Holstein Foto: dpa

Ökoenergie-Projekte im Land bleiben nicht selten in einem Dickicht artenschutzrechtlicher Bestimmungen stecken. In ziemlicher Eintracht haben Politik und Wissenschaft in den vergangenen Tagen darauf hingewiesen.

Baiersbronn/Stuttgart - Trotz aller Bemühungen kommt die Windkraft in Baden-Württemberg nicht in Schwung. Die Debatte um den Vogelschutz nimmt allerdings neue Fahrt auf. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel mokierte sich am vergangenen Donnerstag in einer Diskussionsrunde in Baiersbronn, dass der Rote Milan – ein geschützter Raubvogel – immer dort auftauche, wo ein neuer Standort für eine Anlage vorgeschlagen werde. Zufall?

„Wenn man jedes einzelne Tier schützen will, dann geht überhaupt nichts“, schimpfte Schmiedel in Anwesenheit von EnBW-Chef Frank Mastiaux, EU-Digitalkommissar Günther Oettinger sowie anderen Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Da dürfe doch nicht immer gefragt werden, ob ein Windrad „den Roten Milan am Hinterkopf erwischt“, so der SPD-Politiker weiter.

Mit seiner flapsigen Bemerkung hat der SPD-Fraktionschef eine Debatte aufgenommen, die infolge des Ausbaus erneuerbarer Energien immer mehr Raum greift und auch immer wieder in wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema mitschwingt. Zuletzt in einer gemeinsamen Studie des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoffforschung (ZSW) in Stuttgart und des Berliner DIW, die von der Agentur für erneuerbare Energien (AEE) beauftragt und am Mittwoch veröffentlicht wurde. Darin bescheinigen die Forscher Baden-Württemberg Fortschritte bei der Energiewende – das Land erreichte im Länderranking Platz zwei nach Bayern –, hoben aber auch den Zeigefinger.

Beim Abbau bürokratischer Hürden, die Ökoenergieprojekte ins Stocken bringen, ist das Land nämlich geradezu abgestürzt: von Platz zwei in der letzten Studie im Jahr 2012 ins Mittelfeld aller Bundesländer. Vor allem natur- und artenschutzrechtliche Regelungen und insbesondere der Vogelschutz seien dafür verantwortlich. So zumindest die einhellige Meinung einer Vielzahl von Verbänden, die von den Forschern zu dem Thema befragt wurden. Landläufig gelten vor allem Fledermäuse und Greifvögel als Arten, die durch den Ausbau von Windkraft schwer in Mitleidenschaft gezogen werden und daher besonders schützenswert sind.

Wie aber sehen die konkreten Zahlen aus?

Seit 2002 sammelt die Vogelschutzwarte Brandenburg Daten über die durch Rotoren getöteten Vögel (Schlagopfer). Ein länderübergreifendes Netz aus Vogelschutzwarten und amtlichen Stellen liefert hierfür Zahlen zu. Die Ergebnisse der Brandenburger Vogelzähler haben Eingang in die Bestimmungen des sogenannten Helgoländer Papiers gefunden, das zentrale Bedeutung für die Errichtung von Windanlagen in ganz Deutschland hat. Mit Stand vom 28. Oktober 2014 listet das Papier genau 2145 tote Vögel durch Windräder in Deutschland auf. Systematisch eingeflossen sind die Daten ab 2002, sporadisch reichen sie aber bis 1989 zurück. Nach Angaben von Tobias Dürr, der das Zählprojekt in Brandenburg betreut, stellt die Datenbank die einzige empirische und bundesweit gültige Quelle für Opferzahlen bei Vögeln dar. Wie aber passt das zusammen mit den landläufig kursierenden Zahlen Hunderttausender toter Vögel und Fledermäuse durch Windräder?

Natürlich gibt es viel mehr lokale oder regionale Zählungen. Außerdem eine Vielzahl an wissenschaftlichen Projekten und Veröffentlichungen. Medialen Nachhall fand eine Hochrechnung der Uni Hannover. An 66 zufällig ausgewählten Windrad-Standorten zählten die niedersächsischen Forscher im Jahr 2013 nach. Ergebnis: Durchschnittlich zwölf Fledermäuse je Anlage und Jahr kamen zu Tode. „Rechnet man den Befund auf die aktuell 25 000 Windenergieanlagen in Deutschland hoch, sterben an ihnen jährlich eine viertel Million Fledermäuse“, warnte damals die Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen (EGE). Studienleiter Michael Reich räumte allerdings ein, die Zahl sei „hoch spekulativ“. Vogelforscher Dürr teilt diese Meinung. Die Auswahl der Anlagen könne die Zahlen extrem beeinflussen, ebenso wie die Lage der ausgewählten Windparks oder der Rhythmus der Kontrollgänge. Liege etwa zu viel Zeit zwischen den Suchläufen, könnten Wildtiere Vogelkadaver bereits beseitigt haben, sagt er.

Die Gefahr für den besonders gefährdeten Rotmilan wurde in Brandenburg über die vergangenen 15 Jahre genauer untersucht. Auch hier stand am Ende eine Hochrechnung. Demnach sei beim derzeitigen Anlagenbestand – etwa 3100 Windräder – mit rund 350 toten Tieren pro Jahr zu rechnen, sagt Dürr. Das sei „eine kritische Größe“ für den Bestand. Auf die gesamte Vogelwelt Brandenburgs bezogen, geht Dürr von „knapp vier Vögeln pro Anlage und Jahr“ aus, die den Rotoren zum Opfer fallen.

Diesen Wert aufs gesamte Bundesgebiet zu übertragen, scheut sich der Forscher aber und führt das Beispiel Niedersachsen an. Dort seien „hohe Zahlen“ getöteter Möwen auffällig – ein Befund, der sich so auf Baden-Württemberg und Bayern aber mit Sicherheit nicht übertragen ließe.

Gerade in Süddeutschland, das gerade in puncto Windkraft gegenüber den Nordländern enormen Nachholbedarf hat, fehlten generell fundierte Untersuchungen zum Thema – besonders in Bayern, wo die Technologie politisch abgelehnt werde. In Baden-Württemberg habe sich die Zahl der Untersuchungen allerdings zuletzt erhöht, sagt er. Um die wirkliche Gefahr zu beurteilen, die von den Anlagen für Vögel ausgehe, helfe am Ende aber nur eines: „Zählen, zählen, zählen.“